Rezension: Krähensang - Einunddreißig - Das Forum für Tanka

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KRÄHENSANG EINE REZENSION
Rüdiger Jung

Ein Band Gedichte. Die meisten in der Form, mit der sich Rainer Hesse seit Jahrzehnten kreativ auseinandersetzt: dem Tanka. Das eindrückliche Titelbild: ein schneebedeckter kahler Baum; daneben eine große Schar von Krähen. Der Titel “Krähensang“ mag als vermeintliche Coincidentia oppositorum im ersten Moment irritieren. Die Ornithologie indes lässt keinen Zweifel: tatsächlich zählen die Krähen zu den Singvögeln. Und diese “Sänger" machen Stimmung in sehr runden, atmosphärisch dichten Kurzgedichten:

Auf den Gräbern Schnee.
In der Abenddämmerung,
der kleine Friedhof.
Auf luftiger Höhe dort
ein Schlafplatz für die Krähen. (S.9)

Lärmend ziehen Krähen
in der Abenddämmerung
über brache Felder hin,
fernen Nachtquartieren zu
bis ihr Ruf verstummt. (S.25)

Gewiss: die Jahreszeiten, die wir mit Rabenvögeln assoziieren, sind am ehesten Herbst und Winter. Aber weder sind sie "Totenvögel" noch "Rabeneltern". Der Autor fasst diese Art tradierter Vorurteile präzise zusammen: "Ein schlechtes Zeugnis / für den Homo sapiens!" (S.17) Auch wo nicht die Krähen den Ton angeben, sind und bleiben Hesses Tanka geprägt von einem innigen impressionistischen Naturwahrnehmen:

An der Alten Gracht
kahle Bäume schwarz und stumm.
Schutt versperrt den weg.
Nur junge Katzen streunen
im trüben Laternenlicht. (S.24)

Lautlos Fischreiher
an den Ufern der Seen
hoch in den Föhren.
Unten stehen Schilf und Rohr
im dichten Abendnebel. (S.31)

Im Morgengrauen,
noch vor der ersten Amsel,
höre ich ihn schon,
den Regen, der von Traufen
auf das Kopfsteinpflaster platscht. (S.33)

wie verlassen liegt
die Insel noch von See her!
Ein hechelnder wind
kämmt streng das Haar der Dünen,
durch fahles, zottiges Gras. (S.40)

Auch wo er nicht die Tanka-Form nutzt, erweist sich Hesse als stilistischer Virtuose. Etwa in folgendem Doppel-Haiku:

Bei offener Tür
im 5chein der kleinen Lampe
über den Büchern

Der Duft nach Erde
und das Geräusch des Regens
halten mich wach. (S.14)

Das letzte Tanka, "Die alten Schuhe" (S.43), greift ein symbolstarkes Bildmotiv auf, dem zumal Vincent van Gogh in der Bildenden Kunst sehr eindringliche Gestaltungen gab.
"Weder Feind noch Freund" (S.26) ist dem Autor in einem seiner längeren Gedichte der Tod. Er erfährt eine Entmythologisierung, eine Entkleidung von Metaphern, die immer auch Euphemismen sind. Der Dichter benennt den Tod als "Datum", als Zeitphänomen als Realität klar und präzise. Und gibt ihm verblüffender Weise gerade so kein übermäßiges Gewicht. Die Dinge sehen und benennen als das, was sie sind ein anderer Name für Gelassenheit.
Dem ganzen Facettenreichtum des Bandes ist damit noch nicht Rechnung getragen: Hesse legt Zeugnis ab von der ganzen klaustrophobischen Bedrängnis der Corona-Pandemie (S.12), er erinnert nachdrücklich und eindringlich an die Weiße Rose (S.18), aber auch an den Dichter und Freund Bart Mesotten (S.22). Schließlich vergisst er bei allem "Krähensang" nicht, dem Tribut zu zollen, der Herbst und Winter mehr als nur erträglich macht: "dem Sonnenbruder Wein" (S.29).
Rainer Hesse: Krähensang. Literareon im utzverlag, 2021. 48 Seiten. ISBN 978-3-8316-2275-7.
Herausgeber:
Tony Böhle
Bernsdorfer Str. 76
D-09126 Chemnitz
Redaktion:
Tony Böhle
Valeria Barouch
Mail: einsendung@einunddreissig.net
(C) 2021. Alle Rechte bei Tony Böhle und den AutorInnen.
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