Ausgabe August 2015 - Einunddreißig

Einunddreißig
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Ausgabe Nr. 10 August 2015

Editorial

Es ist nun schon ein paar Wochen her, dass mir auf dem DHG-Treffen in Wiesbaden die Frage gestellt wurde, was das Tanka eigentlich ist und was es von einem "gewöhnlichen" fünfzeiligen Gedicht unterscheidet. Eine Frage, die ich gleichermaßen erwartet wie gefürchtet hatte, denn die einzige, einigermaßen richtige Antwort, die ich darauf geben konnte, nämlich dass dies jeder für sich selbst definieren müsse, ist natürlich unbefriedigend. Also, was ist nun das Tanka außer der ältesten noch gebräuchlichen Gedichtform der Welt? Für das klassische japanische Tanka, das Waka, hat das Vorwort des Kokin Wakashu die vielleicht beste Definition jenseits formaler Merkmale gefunden:
Das japanische Gedicht (Waka) nimmt das menschliche Herz zu seiner Wurzel und Zehntausende von Worten zu seinen Blättern. Das Wirken der Menschen, die in dieser Welt leben, ist vielgestaltig, und das was sie im Herzen empfinden, sprechen sie unter Zuhilfenahme von Dingen aus, die sie mit den Augen und mit den Ohren wahrnehmen. Lauscht man der Stimme der in den Blüten schlagenden Nachtigall oder des in den Wassern hausenden Frosches, welches unter den Wesen, die da leben, äußerte sich nicht in einem Lied! Was ohne Gewalt anzuwenden, Himmel und Erde bewegt, die den Augen nicht sichtbaren Geistern und Gottheiten zu Mitgefühl rührt, die Beziehungen zwischen Mann und Frau noch zärtlicher macht und auch das Herz des ungestümen Kriegers besänftigt, das ist das Gedicht (Waka). [1]
Doch hat sich seit dem 10. Jahrhundert einiges verändert, nicht nur was das Verhältnis zur Natur betrifft, sondern auch hinsichtlich des ästhetischen Anspruches. Betrachtet man die Entwicklungen nach den Reformversuchen gegen Ende des 19. Jahrhunderts, findet sich die Natur zwar immer noch als Gegenstad der Tanka-Dichtung, doch treten immer mehr die Dinge des Alltags in den Fokus. Und auch der Begriff Natur muss in diesem Sinne näher beleuchtet und weiter gefasst werden. Für den modernen Menschen geht der Bezug zur Natur (immer weiter) verloren. Vielleicht sollte man deshalb den Begriff Natur eher als die Welt und die Dinge verstehen, die uns umgeben. Zudem präsentierte sich die japanische Tanka-Szene im 20. Jahrhundert recht heterogen: Die Befürworter der Shasei-Bewegung (Skizze aus dem Leben) wenden sich gegen die Romantiker, die Naturalisten und proletarischen Dichter gegen die Antirealisten und Surrealisten, die Avantgardisten gegen die New-Wave-Dichter. Solch eine Vielfalt an Strömungen und dichterischen Ideen lässt es nahezu unmöglich werden, in Japan eine einigermaßen treffende Definition dessen zu finden, was ein Tanka ist. Auch wenn man immer wieder auf die 31 Moren in fünf Segmenten verweisen möchte, ist dies kein Dogma mehr. Schon um 1910 schreib Ishikawa Takuboku einige seiner Tanka in bis zu sieben Segmenten oder nicht selten mit mehr als 31 Moren.
Weitere Fragen stellen sich noch nach der Verbreitung des Tanka im Westen. Die animistische Natursicht im alten Japan kann für uns so nicht übernommen werden, da sie kein Teil der westlichen Kultur ist. Dazu gesellt sich noch das Problem der Formübertragung in westliche Sprachen, in denen es keine Moren sondern nur Silben gibt. Also wie verfahren? Einfach mit einunddreißig Silben, mit kurz-lang-kurz-lang-langem Segmentmuster oder gleich ganz in der freien Form?
Um etwas besser sagen zu können, was das Tanka ist – oder auch nicht – lässt sich vielleicht ganz gut ein Vergleich mit dem verwandten Haiku anstellen: Das Haiku ist so sehr ein Naturgedicht, wie das Tanka menschliche Gefühlsregungen mit Naturbildern ausdrückt. Das Haiku muss genau so 17 Silben haben, wie das Tanka 31. Das Haiku macht so sehr die Natur zu seinem Gegenstand, wie das Tanka Liebe, Natur und Vergänglichkeit. Das Haiku benötigt so sehr eine Juxtaposition, wie das Tanka ein Scharnierwort.
Was ist nun also das Tanka? Meine Antwort bleibt daher immer noch die gleiche, nämlich dass dies jeder für sich selbst definieren muss. Beschäftigt man sich allerdings eine Weile mit der Geschichte des Tanka, seiner Poetik und liest entsprechend viele Texte, wird man feststellen, dass ihnen allen etwas gemein ist, das sich in Worten vielleicht nicht ausdrücken lässt. Um dieses bestimmte Etwas besser kennen zu lernen, lade ich Sie nun herzlich zur Lektüre der neuesten Ausgabe von Einunddreißig ein, die jetzt online steht.

– Tony Böhle


[1] aus: M. Ooka, E. Klopfenstein, Dichtung und Poetik des alten Japan: Fünf Vorlesungen am Collège de France, Edition Akzente, Hanser, München [u.a.] 2000, S. 45.

Tanka-Auswahl August 2015

Aus den Einsendungen, die zwischen dem 02. April 2015 und dem 01. Juli 2015 eingereicht wurden, habe ich für die August-Ausgabe von Einunddreißig eine Auswahl von 33 Tanka getroffen und einen meiner eigenen Texte beigestellt. Jeder Teilnehmer konnte bis zu zehn Tanka einreichen, von denen maximal fünf in die Auswahl aufgenommen werden. Die ausgewählten Texte stehen nachfolgend alphabetisch nach den Autorennamen aufgelistet. Ein Tanka, das mich besonders anspricht habe ich hervorgehoben und kommentiert.

Ein Tanka, das mich besonders anspricht

diese Dunkelheit
wenn der Mond sich verbirgt
schluckt alle Farben
so denke ich an den Tag
den Raps im Sonnenschein
                 – Silvia Kempen

Die Furcht vor der Dunkelheit als etwas Bedrohlichem ist tief in der menschlichen Natur verankert. Sei es als nächtlicher Gang durch eine unbeleuchtete Gasse, als unheimliche Geräusche des Waldes in einer Neumondnacht oder als das Betreten des spinnenverseuchten Dachbodens.
Hier und heute erleben wir diese absolute Dunkelheit allerdings kaum noch. Die Straßen in den Städten sind gut beleuchtet, die Fahrzeuge mit Scheinwerfern ausgestattet, die Wohnzimmer mit Lampen reichlich behängt und für Nachtwanderer steht die Taschenlampe sogar als App für das Smartphone zur Verfügung. Solche tiefschwarzen Nächte sind allerdings seit der Erfindung der Glühlampe eine Seltenheit geworden und an vielen Orten wird inzwischen von einer Lichtverschmutzung gesprochen. Nicht nur Observatorien müsste die Flucht vor dem Künstlichen Licht antreten, nein, auch Vögel beginnen in vielen Städten zu ungewöhnlichen Zeiten zu singen. Wie unvergleichlich furchteinflößender muss da doch eine tiefschwarze Nacht vor der Erfindung des elektrischen Lichts gewirkt haben, als unseren Vorfahren bestenfalls eine kleine Kerzen oder Öllampe gegen die übermächtige Dunkelheit zur Verfügung stand? Und wie mochte man damals der Furcht vor der Dunkelheit begegnen?
Im hier ausgewählten Tanka werden wir in eine solche, mittlerweile selten gewordenen Nacht absoluter Dunkelheit versetzt. Der Oberstollen des Tanka befasst sich zunächst mit einer mit der genauen Beschreibung der herrschenden Dunkelheit, die von Segment zu Segment intensiviert wird und für den Leser die Spannung erhöht. Der in Segment a beschriebenen "Dunkelheit" wird noch das Demonstrativadjektiv "diese" vorangestellt, und schafft so eine Abgrenzung von einer Dunkelheit, wie sie in anderen Situationen als weniger tief oder bedrückend empfunden wird. Segment b beschreibt die Ursache für diesen besonderen Umstand, nämlich das Verborgensein des Mondes, hier wahrscheinlich nicht nur hinter einigen Wolken – denn dies lässt immer noch einen diffusen Rest an Licht zurück – sondern als Neumond und führt beim Leser zu einer Intensivierung des Dunkelheitsempfindens. Das logische Resultat des absoluten Fehlens von Licht beschreibt Segment c im Verschlucken aller Farben, da diese durch die Wechselwirkung von Licht und Materie entstehen.
Dieser äußeren Realität wird nun im Unterstollen eine innere Vorstellung entgegengesetzt. Das Lyrische Ich klammert sich hier mit der Vorstellung von Licht, Farbe, Tag und Form (in der Gestalt von Raps) an alle Dinge, die die Dunkelheit im Oberstollen verschluckt hatte. Solch ein Gegenentwurf scheint hier die logische, oder vielleicht auch erlernte Reaktionen für das Lyrische Ich zu sein, da Segment d mit den Worten "so denke ich" beginnt. Angstbewältigung mit positiven Gedanken ist sicherlich ein probates Mittel um der äußeren Situation standzuhalten.
Silvia Kempens Tanka lässt auch Anklänge zu Yosa Busons bekanntem Haiku Rapsblüten! / der Mond im Osten / die Sonne im Westen (na no hana ya / tsuki wa higashi ni / hi wa nishi ni) erkennen. Buson beschreibt darin eine Abendszenerie mit aufgehendem weißen Mond, roter Abendsonne und gelben Rapsblüten. Ob dieser Naturbeschreibung eine Beobachtung zu Grunde liegt oder sie der regen Phantasie des Autors entsprungen ist, bleibt bis heute umstritten. Es gibt verschiedene Interpretationsansätze, von denen einer besagt, dass das aus Rapspflanzen gewonnene Öl  als Brennstoff für Lampen diente, womit der Raps im Haiku zum dritten Licht neben Sonne und Mond wird. Alle wesentlichen Elemente finden sich auch im Tanka von Silvia Kempen: der Mond, die Sonne und der Raps. Im Vergleich zu Busons Haiku sind diese jedoch nicht physisch präsent: der Mond ist als Neumond unsichtbar, genau wie die Farben, die Sonne und der Raps.

Die Auswahl

Wie viele Tränen
sind für Dich geflossen
in letzter Zeit
warum muss Dir denn just
mein Zwiebelkuchen munden

                 – Valeria Barouch

Hörst du die Stille,
das Rauschen und Pulsieren,
fühlst du das Leben
durch deine Adern fließen,
am Saum zwischen Tag und Nacht?

                 – Silvia Kempen

Konfitüren
mag ich keine essen
genaugenommen
schliesse ich nur den Sommer ein
um ihn löffelweise zu befreien

                 – Valeria Barouch

mit dem Tupfer
leicht übers Lid gewischt –
alles will ich
ihnen glauben, alles,
diesen sanften Händen

                 – Ingrid Kunschke

Der Regenschauer
wird willkommen geheißen
vom verdorrten Land,
gierig verschluckt die Erde
jeden der Regentropfen.

                 – Ingrid Baumgart-Fütterer

"Dies ist nur
eine neue Situation":
mein Mantra,
mit dünner Stimme
beharrlich aufgesagt

                 – Ingrid Kunschke

gestrandet
in einer Stadt, wo keiner
mich kennt
lieg ich nachmittags im Park
transparent wie eine Qualle

                 – Tony Böhle

In meine Eile
eines Kuckucks Rufen
mehr als 30… mitgezählt
und im Einkaufswagen
schmilzt das Eis

                 – Ramona Linke

Im Traum
stand mir das Wasser bis zum Hals –
als ich erwachte
schien die Sonne und
Amselgesang tröstete mich

                 – Gerald Böhnel

Regen rinnt
am Birkenstamm hinab
eine Pfütze zu bilden
wo kein Gras mehr wächst
unter der Schaukel

                 – Ramona Linke

Wirf endlich
die schmutzige Feder weg –
die blaue Taube
Kindheit verlässt
allmählich das Haus

                 – Reiner Bonack

Ein alter Tempel
im  Mittsommerabendlicht, –
ich wandere weiter.
Dann bedenk ich's doch noch mal,
und mein Schritt führt mich zurück.

                 – Horst Ludwig

aufgewacht
auf deinem Kissen
ein Zipfel Sonne
im geöffneten Fenster
dehnt sich der blaue Himmel

                 – Claudia Brefeld

Der fröstelnde Geist
beim Theater im Park,
lauer Sommernacht
Illusion ist eigentlich
gut glaubhaft, wenn gut gemacht.

                 – Horst Ludwig

lese Tanka
im Döner-Laden
aber die Frau
hinter der Theke fragt
ob mit allem drauf...

                 – Ralf Bröker

Nach Sommertagen
holt uns dichter Nebel ein,
verschluckt die Wiesen…
Glockenton einer Leitkuh –
trigonometrischer Punkt.

                 – Conrad Miesen

die würde ich
nicht von der Bettkante...
aber sie kommt
nicht auf den Gedanken
würde ich auch nicht

                 – Ralf Bröker

Unterricht über
den Läuteplan der Glocken –
Ich armer Küster!
Wendelinus hat eine
und die ist zur Zeit defekt…

                 – Conrad Miesen

beim Anblick
des Innenlebens eines 
Dixieklos
fallen mir viele Titel
für moderne Lyrik ein

                 – Ralf Bröker

Der Bundestrainer
strahlte im Interview stets
große Ruhe aus –
nahm eine Wasserflasche
und schmetterte sie mit Wucht!

                 – Masami Ono-Feller

Paar Flügeltüren,
wie sie sich öffnen und nach
mir schließen... und links...
die Herzkammer, sagt der Arzt,
sei etwas aus dem Rhythmus.

                 – Beate Conrad

Lächelnder Nachbar,
in Gedanken versunken,
auf der Bank vorm Haus.
Der Wind streichelt sein Gesicht
fast so zärtlich wie einst sie.

                 – Wolfgang Rödig

nächtliche Metamorphose…
mein Raupenkörper
legt sich zur Ruh
meine Schmetterlingsseele
erwacht

                 – Frank Dietrich

Du kommst von fern
und öffnest mit deinem
eigenen Schlüssel
mein Haus  Und findest mich
bei dir daheim

                 – Angelica Seithe

ich weiß nicht welches Tier
ich im nächsten Leben
sein werde
aber in diesem bin ich
ein flugunfähiger Vogel

                 – Frank Dietrich

Ende Juni
Die Birke nimmt nicht viel Himmel
Die Wolke
legt still an ihren Zweigen an –
Komme, was wolle

                 – Angelica Seithe

Frühstück im Freien
mit zwei Sonnen:
eine am Himmel
und die andere
in meinem Spiegelei

                 – Frank Dietrich

wieder gesund
die neue Qualität
des Lichts
macht mich süchtig
nach Frühling

                 – Dietmar Tauchner

Zu klein
meine Hände
für das große Glück
dennoch ein Landeplatz
für einen Schmetterling

                 – Ilse Jacobson

Abwaschberg –
ihr Blick in meine Richtung
"Nicht schon wieder", denke ich
und nehm‘ mit einem Lächeln
den Lappen in die Hand

                 – Martin Thomas

lautstark
noch hat er es zu sagen
Vater
zu einem Terrier geworden
in seinem hohen Alter

                 – Silvia Kempen

In weitem Bogen
werfe ich
zwischen Hafen und Hafen
einen Anker
der den Grund nicht kennt.

                 – Ulf Witt

diese Dunkelheit
wenn der Mond sich verbirgt
schluckt alle Farben
so denke ich an den Tag
den Raps im Sonnenschein

                 – Silvia Kempen

Unter der gnadenlosen Sonne
versöhnt mich
ein verrosteter Pflug
auf ausgedörrtem Boden
mit meinen nie vollendeten Arbeiten.

                 – Ulf Witt

Das Tanka international Teil I - Kozue Uzawa

Kozue Uzawa wurde im Jahr 1942 in Tokyo geboren. Wie alle Schulkinder in Japan wurde sie schon bald mit Haiku, Tanka und anderen Gedichtformen vertraut gemacht. Nachdem sie für einige Jahre an einer High School unterrichtet hatte, entschied sie sich, ihren Horizont zu erweitern und ihr Fernweh zu stillenIhr Ziel war Vancouver, von dem sie gehört hatte, es sei die schönste Stadt in Nordamerika, und so wanderte sie im Jahr 1971 nach Kanada aus. 
Sie arbeitet in der Bibliothek der University of British Columbia und beginnt ein Studium in Englisch als Fremdsprache, das sie bald mit einem Master-Grad und einer nachfolgenden Promotion abschließt. Kozue Uzawa unterrichtet daraufhin an verschiedenen Universitäten, u.a. der University of British Columbia, der Western Washington University und der University of Lethbridge in Alberta.
Unter dem Eindruck, dass das Tanka in Kanada nahezu unbekannt war, begann sie japanische Tanka ins Englische zu übersetzen, in der Hoffnung, die Menschen in ihrer neuen Heimat würden lernen diese lyrischen fünfzeiligen Gedichte auf die gleiche Weise zu lieben, wie sie selbst. So begann sie, ihre liebsten japanischen Tanka in ein Notizbuch zu schreiben und zu übersetzen. Ihre Übersetzungen erschienen zum ersten Mal 1999 The Tanka Journal Nr. 14.
Kozue Uzawa war 2005 an der Gründung von Tanka Canada beteiligt und ist als Redakteurin des englischsprachigen Journals GUSTS tätig. Sie schreibt Tanka sowohl auf Japanisch wie auch auf Englisch. Ferner ist sie als Übersetzerin tätig und Mitherausgeberin von Ferris Wheel: 101 Modern and Contemporary Tanka und Kaleidoscope: Selected Tanka of Shuji Terayama.
– Tony Böhle

October
snow covered this town…
cold wind blowing
all day, and my face
becomes a winter face

Oktober
Schnee bedeckt diese Stadt…
kalt weht der Wind den
ganzen Tag und mein Gesicht
wird zu einem Wintergesicht

I cannot make
friends in this town
slowly
my thin shadow
moves with me

in dieser Stadt
kann ich keine Freunde finden
langsam
zieht mein dünner Schatten
mit mir

what is the colour
of loneliness?
prairies
in front of me
already brown

was mag die Farbe
der Einsamkeit sein?
die Prärien,
die vor mir liegen
sind schon braun

in Canada
I am a Japanese
but in Japan
I’m a traveler with
a Canadian passport

in Kanada
bin ich Japanerin
doch in Japan
bin ich eine Reisende
mit kanadischem Pass

attacked
by migraine headache
in Germany…
medieval witches
still alive and mean

überfallen
vom Mirgänekopfschmerz
in Deutschland…
Hexen aus dem Mittelalter
noch lebendig und garstig

first day
of autumn already –
I buy
mini sunflowers to enjoy
summer one more week

der erste Tag
des Herbstes ist schon da –
ich kaufe mir
kleine Sonnenblumen um den Sommer
noch eine Woche zu genießen

snow-covered fields
mile after mile
the bus
heads north
through the Alberta prairie

schneebedeckte Felder
Meile für Meile
zieht der Bus
Richtung Norden
durch Albertas Prärie

my acupuncturist
inserts countless needles
around my head,
a small universe full of
worries, regrets, and hopes

mein Akupunkteur
sticht zahllose Nadeln
in meinen Kopf,
ein kleines Universum voll von
Sorgen, Bedauern und Hoffnungen

his cooking show
on the Japan TV –
recipe of
spring cabbage
just for one person

seine Kochshow
im japanischen Fernsehen –
das Rezept
für Frühlingskohl
für nur eine Person

reunion
after ten years
I’m afraid
I might look older
than my friends

Wiedersehen
nach zehn Jahren
ich befürchte
ich könnte älter aussehen
als meine Freunde

Ausgewählt mit freundlicher Genehmigung der Autorin aus: K. Uzawa, I'm a traveler: A collection of tanka, Modern English Tanka Press, Baltimore, Maryland 2011. Übersetzung: Tony Böhle.

Benedictio (Weihe)

Während ich mit dem jungen Ehepaar gemeinsam durch die leeren Räume gehe, erinnere ich mich vage:
Der Pfarrer legte zuvor eine kleine Stola um, entnahm seinem Köfferchen einen merkwürdigen silbernen Stab mit einer Kugel an dessen Spitze, die er mit einem Wasser aus einer kleinen Flasche füllte. Als er nun durch jedes Zimmer vor uns herschritt, sprach er und schwenkte dabei seinen Stab dreimal. Dabei entwich aus der Kugel etwas von dem Wasser. Auch ich, damals dreijährig, bekam davon ein paar Spritzer ab.
Unser Gang endete im Wohnzimmer, wo die Mutter den Tisch mit zwei Kerzenleuchtern und Blumen geschmückt hatte. Die Kerzen leuchteten jetzt. Auch ein paar Freunde und Nachbarn hatten Brot und Salz gebracht und sich im Zimmer zur Einweihungsfeier versammelt...
Ich übergebe das klingende Hausschlüsselbund an seine neuen Eigentümer, das junge Ehepaar. Beim Hinausgehen trifft mein Blick auf die helle kreuzförmige Stelle über der Haustür und höre noch einmal die Worte des Priesters: Gesegnet sei dieses Haus und alle, die da gehen ein und aus.

    Alsdann fahre ich
    tiefer in die Frühherbstnacht
    vorbei am Friedhof,
    wo gebeugte Weiden schwer
    sich auch zum Himmel richten.

– Beate Conrad

Das verborgene Rom

Eine neue Lektion und zugleich ein weiterer Versuch, in den Geist der Antike einzudringen, erhielten wir dann noch am gleichen Tag beim Betreten des Kolosseums, dieses großen Symbols des antiken Rom, in dem einst Gladiatoren-Kämpfe zur Belustigung der Menge stattfanden und das heute noch trotz seiner Übergröße und trotz der Harmonie des Arkadenaufbaus eher abstößt als anzieht. Während der Reiseführer noch sprach, versuchte ich mir auszumalen, was hier an Menschen- und Tierschinderei vollzogen wurde.
 
    Amphitheater.
    Im Keller hallt noch immer
    das Raubtiergebrüll…
    Geruch von Blut und Angstschweiß
    überdauert die Zeiten.

Ganze 70.000 Zuschauer soll das Gebäude einstmals auf seinen vier Geschossen, die um ein Riesenoval herum errichtet sind, gefasst haben. Eine beispiellose Demonstration von Macht und gelenkter Massenhysterie, die im Interesse des Imperators lag.

Schaudernd verließ ich die Arena und entspannte mich erst wieder ein wenig später beim Anblick der vielen herumstreunenden Katzen auf dem Trajans-Forum, die von Einheimischen durchgefüttert werden. Diese geschmeidigen, unhörbar schleichenden Geschöpfe waren mir spürbar näher als all die Überreste antiken Pomps.
– Conrad Miesen

Im Dunkeln

Ich klingele bei "Schwarz", kurz darauf geht die Tür auf und ich betrete das versiffte Treppenhaus. Auf dem Weg nach oben werde ich von einer zwielichtigen Gestalt überholt. Er besitzt einen Schlüssel für die "Schwarz" Wohnung und als ich oben ankomme schließt er gerade die Tür auf. Freundlich aber bestimmt bittet er mich kurz vor der Tür zu warten.

Während ich verdutzt vor der Tür stehe, wird drinnen gestritten und geschrien. Er sucht wohl ein Mädchen, das ihm Geld schuldet. Und er hat offenbar keine Skrupel, in die Zimmer zu platzen in denen gerade DLs [2] mit Kunden zugange sind – da wird es dann richtig laut!

Kaum eine halbe Minute später kommen zwei nackte Mädchen und der Typ aus der Wohnung. Anscheinend strecken die beiden das Geld für das gesuchte Mädchen vor. Bevor er geht packt er noch einer der beiden an den Hintern und die Brüste, guckt mich an und sagt: "Geiler Arsch, geile Titten – viel Spaß."

Doch mir ist die Lust längst vergangen. Ich warte noch bis der Typ weg ist und gehe dann selbst die Treppen runter. Als ich gerade zwischen zwei Etagen bin geht plötzlich das Licht aus und ich bin

    im Dunkeln. "Geh ins
    Licht", sagt eine Stimme in
    meinem Kopf – doch da
    ist kein Licht und zu Hause
    wartet niemand der mich liebt

– Frank Dietrich

[2] Dienstleisterin (= Prostituierte)

Wasserlinsen

Feierabend! Wie jeden Tag an dem breiten Graben vorbei.
Heute im Schatten der Erle eine Ente. Sie beobachtet mich. Neben ihr ein Knäuel. Oh, das sind ihre Küken. Fünf oder sechs, so genau ist das nicht zu sehen.

    Weißt du noch, damals,
    als nach ihren Albträumen
    die Kinder zu uns
    unter die Decke krochen
    und wir uns anlächelten?

– Silvia Kempen

Zuschrift - Gedanken zu einem Tanka von Tony Böhle


    auch sie sind ihrem
    alten Leben entwachsen
    und so topf' ich
    meine Orchideen um
    so behutsam ich nur kann

Ein Text, den der Herausgeber der Tanka-Zeitschrift Einunddreißig von sich selbst in seine Zusammenstellung der für die Mai-Nummer 2015 ausgewählten Tanka aufgenommen hat. Zunächst nimmt man einfach das Dargestellte wahr: Es geht um die Orchideen von jemand, der sie unter seine Obhut genommen hat und sie umpflanzt.  Als ein Liebhaber besitzt er sie, es sind seine Orchideen. Jeder Orchideenzüchter würde nämlich die Orchideen umtopfen, normalerweise nicht seine Orchideen, und er weiß, wie man das professionell tut, mit geübten Handgriffen, sorgfältig natürlich, aber eben auch gekonnt und ohne Zeitverschwendung. Hier topft sie jedoch wer "behutsam" um, und selbst die dabei angewandte Sorgfalt wird sprachlich noch einmal näher gekennzeichnet: "so behutsam ich nur kann." Der innere Sprecher gibt sich Mühe, nichts falsch zu machen; vielleicht hat er sogar ein offenes Buch neben sich, dessen Anweisungen er genau folgt, damit alles richtig vonstattengeht. Seine Orchideen umzupflanzen ist wohl etwas Neues für ihn; es ist keine Routinearbeit nach dem Kalender. Und er tut sie, denn "auch" die Orchideen "sind ihrem alten Leben entwachsen", also nicht nur ihr altes Leben ist zu einem Ende gekommen, sondern auch das von noch etwas oder noch wem. Es ist offen, ob letzteres den Besitzer der Orchideen meint; aber es ist nicht auszuschließen. Auf jeden Fall bedenkt er, wie etwas ganz natürlich anders wird und es deshalb gilt, sich anderen Umständen anzupassen und jegliches Nötige zu tun, damit alles so normal wie möglich weitergehen kann. Aber wir wissen, daß das nicht leicht ist, besonders wenn es sich bei dem, was sich verändert, um etwas sehr Feines und Zartes handelt, das einem lieb geworden ist. Ob die Kinder jetzt aus dem Haus sind oder ein lieber Mensch weggezogen ist oder man den Ehepartner verloren hat oder man auch nur etwas Materielles abgeben mußte, was einem viel bedeutete, - wir alle haben leidvoll erfahren und bewitzeln es sogar, daß nichts beständiger ist als der Wechsel und es auch eine Last ist, damit zu leben. Aber ohne Schaden weiter zu machen, weil man es ja muß, das geht bei Wichtigem nur, wenn man das Verändern sehr behutsam angeht. Nachträglich nennen wir sowas natürlichen Reifeprozeß und echte Erfahrung eines trotz allem und auch wegen allem ja doch bereicherten Lebens, - und glücklich also der, der es wie das weitere Wachsen der Orchideen eines Orchideenliebhabers erlebt.
Es ist ein sehr einfacher Tankatext, der uns diese Gedanken nahelegt. Keine Binnenreime, keine groß bemerkbaren Stabreime, fast keine Assonanzen, nichts wird uns hier mit rhetorischen Tricks vorgejubelt; in c fehlt sogar eine Silbe, die uns helfen könnte, das Ganze als in vorgegebener poetischer Form zusammengefaßt zu empfinden (auch wenn der Apostroph den Wegfall der Silbe nur mühselig anzeigt und eine kleine Pause da wegen des Kehllautes am Anfang von "ich" doch vernehmbar ist). Das Ganze berührt uns wie eine kurze Antwort auf vielleicht die Frage, was das Ich in diesem Text da denn gerade so mache. Aber die Antwort ist dann doch detaillierter als die Gesprächssituation es erfordert hätte: Da sind nämlich auch die Adverbien "behutsam" und "auch", die uns aufhorchen lassen. Und dann spüren wir, wie hier, wo wir lässig sagen, "Na, wie soll's einem denn schon gehen?", auch mit dem mehr oder weniger normalen "alten Leben" mehr zur Sprache kommt, - und wir bedenken, wie nichts so bleibt, wie es ist, und daß wir in unserer Zeit halt umtopfen müssen, wenn wir Schönes, an das wir uns gewöhnt haben, weiter mitmachen wollen.
Und damit fällt auch das "nur" noch etwas auf. Zunächst bezieht es sich einzig als einschränkendes Adverb auf "kann", und jedes Verständnis von "nur" als auf das Ich einschränkendes Attribut, als "ich bin der einzige, der sowas kann", wäre absurd gewesen. Nach all den ernsten Gedanken zu dieser in einem ja kurzen Tanka dargestellten einfachen Liebhabertätigkeit, den Orchideen einen reicheren Grund zu geben, sehe ich es mir jedoch noch einmal näher an. Da war mir vor langem in meinen unreifen Halbstarkenjahren ein Vers aufgefallen, den ich gerne ins Poesiealbum der Mädchen schrieb, die da auch mal was von mir eingesetzt haben wollten: Nimm dein Schicksal ganz als deines! / Hinter Sorge, Gram und Grauen / wirst du dann ein ungemeines / Glück entdecken: Selbstvertrauen." Das könnte in Tony Böhles Tanka hier dem inneren Ich auch anklingen. Auch wenn's mit dem Selbstvertrauen heutzutage nicht unbedingt mehr ganz so weit her ist wie's dem Dichter noch vor hundert Jahren war.

– Horst Ludwig

Veranstaltungshinweis

Die bekannte japanische Tanka-Dichterin Mariko Kitakubo hält am 29. September 2015 im ehemaligen Kloster Mariaberg in Rorschach, St. Gallen, eine Lesung ihrer Werke ab. Die Tanka werden auf Englisch und Japanisch vorgetragen. Der Eintritt ist frei. Die Veranstalterin Ruth Zuckerschwerdt hofft auf reges Interesse und lädt alle Interessenten auf das Herzlichste ein:

Dear Tanka Friends,

I am delighted to advise you that Mariko Kitakubo will have her first recitation performance of Tanka poems in Switzerland
at the University of Teacher Education, St.Gallen (Campus Rorschach) in the beautiful former Monastry Mariaberg, Rorschach, on Lake Constance, on Tuesday, September 29, 2015, at 13.15 o’clock.
The passionate Tanka poet brings us the gift of this over 1300 years old Japanese short form poem in the natural rhythms of the Japanese language. She performs, accompanying herself on percussion instruments.
We will be glad to welcome you here. Mariaberg is located in walking distance from the train station Rorschach. Admission is free.

Ruth Zuckschwerdt
0041 71 840 05 61
ruzu27@hotmail.com

Die Einladung zur Veranstaltung ist als pdf-Datei zum Herunterladen verfügbar.

nächste Ausgabe

Die nächste Ausgabe von Einunddreißig erscheint am 01. November 2015. Der Einsendeschluss ist der 01. Oktober 2015.

(C) 2021
Alle Rechte bei Tony Böhle und den Autoren.
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