Ausgabe November 2017 - Einunddreißig

Einunddreißig
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Ausgabe Nr. 19 November 2017

Editor: Tony Böhle

Artikel und Essays
Editor: Valeria Barouch

von Valeria Barouch & Tony Böhle

Editoren: Valeria Barouch & Tony Böhle

Tanka-Prosastücke
Editoren: Valeria Barouch & Tony Böhle

Tanka-Sequenzen
Editor: Tony Böhle

Essays
Editor: Tony Böhle

Mitteilungen
Editor: Tony Böhle

Tony Böhle

Editorial

Ist man in den letzten Monaten aufmerksam durch die Straßen gegangen, wird man hier und da immer wieder auf Auslagen in den Schaufenstern gestoßen sein, die sich mit der Person Martin Luthers beschäftigen. Luther-Brote beim Bäcker, Biographien und Bibeln in den Buchläden, daneben Ausstellungen, künstlerische Aktionen sowie zahlreiche Dokumentationen, Filme und Diskussionsrunden im Fernsehen. Am 31. Oktober dieses Jahres haben wir nun den 500. Jahrestag des Anschlags der 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg begangen. Auch wenn es heute fragwürdig erscheint, ob Luther selbst sie dort anbrachte, war dieser Anschlag, gemessen an den Folgen, wohl eines der bedeutendsten Ereignisse in der modernen Geschichte.
Doch welche Bedeutung haben Luther, die Reformation und Kirchenspaltung heute noch für unser Zusammenleben? Sicherlich, in den katholisch geprägten Bundesländern gab es in diesem Jahr einen zusätzlichen Feiertag. Betrachtet man den Alltag und das Miteinander der Konfessionen, scheinen für viele Menschen die Unterschiede gar nicht mehr so bedeutsam zu sein. Und gerade in den neuen Bundesländern, in denen nur noch eine Minderzahl der Menschen überhaupt einer Kirche angehört, spielt diese Frage nahezu keine Rolle mehr.
Betrachtet man das Tanka als einen Indikator dafür, welche Themen, Ereignisse, Konflikte oder Überzeugungen die Autoren oder sogar die gesamte Gesellschaft bewegen, waren religiöse Themen und Anspielungen in den klassischen japanischen Gedichtsammlungen recht weit verbreitet, und nicht nur in solchen Texten, die von Mönchen verfasst wurden. In den deutschsprachigen Tanka der Gegenwart findet sich hier und da auch das Thema Religion, aber eher als eine Randerscheinung. Auch das Reformationsjubiläum immerhin ein großes, wurde in keinem Tanka aufgegriffen. Welche Schlüsse soll das nun zulassen? Das zu erkunden, lade ich alle Leser herzlich zur 19. Ausgabe des Tanka-Magazins Einunddreißig ein.

Valeria Barouch

Das Tanka international Teil VII - Patrick Simon

Der Frankokanadier Patrick Simon wurde am 5. März 1953 in Lothringen (Frankreich) geboren. Er ist ein vielseitiger Autor. Als humanistischer Essayist hat er verschiedene Bücher veröffentlicht, namentlich "Sécurité humaine et culture de la paix" im Verlag Éditions Fleur de Lys, Canada, sowie Artikel in mehreren Zeitschriften in Frankreich und Kanada. Aus seiner Feder stammen auch drei Romane: "Émoi et toi", 1993, "Esquisse des sentiments", 1996 (Éditions Lacour, Nîmes) und "Impur", 2016 (Éditions du tanka francophone in der Reihe Pavillon de minuit, Laval (Quebec), sowie verschiedene Gedichtbände. Drei seiner letzten Bücher sind "Le murmure des pins", 2014 (Gedichte), "Mots de l'entre-deux, renga", 2010 (in Zusammenarbeit mit Martine Gonfalone Modigliani) und eine Einführung in die Kurzdichtung "Tanka: introduction à la poésie brève", 2015 (Co-Autor Alhama Garcia). Zwischen Romanen, Dichtung und Essais, hat er seit 1984 rund 20 Bücher veröffentlicht.
Er war Mitglied des Verwaltungsrates der "Association francophone de Haïku". Er ist Vollmitglied der "Union des écrivaines et écrivains du Québec" und Vorsitzender der "Association Festival International de Tanka". Seit 2007 ist er ebenfalls Direktor des Magazins und des Verlages für das französischsprachige Tanka (Revue et Éditions du tanka francophone). Er leitet Schreibwerkstätten für Kurzdichtung, nimmt an Konferenzen und Gesprächsrunden im Bereiche der Dichtung, wie auch des Humanismus teil. Als Verleger und Autor ist er ebenfalls regelmässig an Buchmessen und Literaturfestivals anzutreffen.

Sous l'arbre tremblant
l'écho de Fukushima
tant de résonance
je regarde autour de moi
la nature si présente

Unter dem bebenden Baum
das Echo von Fukushima
so viel Resonanz
ich schaue um mich
wie gegenwärtig die Natur

Dessin  écriture
dans les brèches du silence
un jour à la fois
je songe à Asli Erdogan*
 maudit son homonyme
 
*Ecrivaine turque, emprisonnée, puis libérée mais dont le procès est toujours en attente en Turquie.

Zeichnen – Schreiben
in die Breschen der Stille
von Tag zu Tag
ich denke an Asli Erdogan*
 verwünscht sei der Namensvetter
 
*türkische Schriftstellerin, verhaftet und wieder freigelassen; ihr Prozess ist in der Türkei noch anhängig

C'est un matin gris
attentat de Westminster 
et toujours debout
aux amis je téléphone
la poésie la plus forte

Ein grauer Morgen
Attentat in Westminster 
und immer noch wach
telefonier' ich den Freunden
die kräftigste Wortkunst

Un feuillet d'amour
tendu au dernier conscrit
combien sont partis?
laissant à l'amante lasse
tant de nuits qui s'accumulent

Ein Blatt mit Liebesworten
dem letzten Wehrpflichtigen hingehalten
wie viele sind gegangen?
der entmutigten Liebenden bleiben
all die Nächte die sich mehren

Croisières de mai
croisent trop de naufragés
Méditerranée
comment fais-tu pour garder
tes nuances de bleutés?

Mai Kreuzfahrten
begegnen zuviel Schiffbrüchigen
Mittelmeer
wie bewahrst du dir nur
deine bläulichen Schimmer?

Vers toi mon regard
outre rive en ce passage
je vais les frôler
ces jeux de lumière éparse 
qui rassemblera nos vies?

Zu dir geht mein Blick
Jenseits an diesem Wendepunkt
ich werde sie streifen
die verstreuten Lichterspiele 
wer wird unsere Leben vereinigen?

L'âme qui désire
trouver les sphères de vie
viendra-t-elle à toi?
houle de syllabes humides*
sans lasser ce corps encore
 
*Octavio Paz, Versant est, nrf, Paris

Die Seele die begehrt
Lebensbereiche zu finden
wird sie zu dir kommen?
eine Brandung feuchter Silben*
noch ermüdet sie nicht diesen Körper
 
*Octavio Paz, Versant est, nrf, Paris

Tu bois la vodka
dans l'ombre de tes silences
et pourtant  pourtant
hier même je me taisais
le vol du papillon noir*
 
*papillon noir: idée sombre

Den Vodka trinkst du
im Schatten deines Schweigens
und dennoch  dennoch
selbst gestern hab' ich geschwiegen
düstere Gedanken öffnen ihre Flügel

Assis sur un banc
Place Jacques Cartier
face à l'infini
nos deux coeurs sont côte à côte
le ciel infiniment bleu

Auf einer Bank sitzend
am Jacques Cartier Platz
der Unendlichkeit gegenüber
sind unsere Herzen Seite an Seite
der Himmel grenzenlos blau

Nos regards croisés
sur quelques routes improbables
mais d'ouest en est
nos âmes restées nomades
grand départ avec nous-mêmes

Gekreuzte Blicke
auf einigen Strassen des Zufalls
doch von Westen nach Osten
unsere Seelen Nomaden geblieben
nehmen Abschied von uns selbst

Übersetzt und veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Valeria Barouch & Tony Böhle

Tanka der Redaktionsmitglieder

Mit Mühe folge ich
deinen Schritten zu Hause
nun wandere ich dir
einen halben Tag voraus
am anderen Ende der Welt

                 – Valeria Barouch

stets zum anderen
den halben Tacho Abstand
halten… gibt es denn
solch eine simple Regel
nicht auch für Eheleute?

                 – Tony Böhle

Ungestüm stürzen sie
aus türkisblauer Weite
in die Arme der Bucht
wie diese Wellen wird einst
meine Rückkehr
                 – Valeria Barouch

wie bedauernswert
muss wohl ein Vater sein, der
seinen Sohn aufzieht
und sieht, dass er ein Mann wird
so ganz anders als er selbst?

                 – Tony Böhle

Valeria Barouch & Tony Böhle

Tanka-Auswahl November 2017

Aus den Einsendungen, die zwischen dem 1. August 2017 und dem 30. September 2017 eingereicht wurden, hat die Jury, bestehend aus Valeria Barouch und Tony Böhle, für die November-Ausgabe von Einunddreißig eine Auswahl von 28 Tanka getroffen. Jeder Teilnehmer konnte bis zu zehn Tanka einreichen. Die ausgewählten Texte stehen nachfolgend alphabetisch nach den Autorennamen aufgelistet. Die Jurymitglieder haben jeweils ein Tanka, das sie besonders angesprochen hat, hervorgehoben und kommentiert.

Valeria Barouch

Ein Tanka, das mich besonders anspricht

durch Raum und Zeit
reisen seine Zeilen
in meinen Kopf
entfachen das Feuer
meiner eigenen Welt
                 – Ralf Bröker

Auf Gruppenseiten sozialer Netzwerke, die einem weltbekannten Autor und seiner fantastischen Welt gewidmet sind, bringen Mitglieder immer wieder Fotos ein von Orten, in denen sie Schauplätze aus einer mythischen Welt erkennen. Rund um den Globus treten dieselben Stätten unzählige Male auf und es wäre völlig nutzlos die Entdecker auf die vielen Charakteristika hinzuweisen, die mit der Welt des Autors unvereinbar sind, z.B. das Pflanzenreich, um nur eine zu nennen. Der begeisterte Fan schert sich nicht im Geringsten um Spitzfindigkeiten von Puristen. Für ihn ist das Beschriebene greifbar nahe gerückt, oftmals gleich um die Ecke, an einem Ort, den er vielleicht schon lange kannte und den er heute mit neuen Augen sieht. Er hat sich die mythische Welt zu eigen gemacht. Sie verschönt die Realität und beflügelt oftmals seine eigene Kreativität.

Francis Bacon verglich Bücher mit Schiffen, welche unversehrt die weiten Meere der Zeit durchreisen und beständiger sind als von Mächten erbaute Monumente. Dies scheint mir ein treffender Vergleich. Doch wo und wie oft die Schiffe anlegen, wieviel von ihrer Fracht sie in jedem Hafen lassen und wie diese Fracht verarbeitet wird, darüber hat der Autor keine Kontrolle mehr. Etwas zeitgemässer könnte man sie auch als Inkubatoren bezeichnen, die unentwegt die unterschiedlichsten Welten produzieren. Jede Leseratte kennt diese Bücher, die auf dem Regal einen besonderen Platz einnehmen. Sie sind der ruhende Pol in einer immerzu wechselnden Landschaft. Wir trennen uns ohne Mühe von denen, die uns eine Weile unterhalten haben, wenn wir wieder Platz für Neuankömmlinge schaffen müssen. Doch immer machen wir Halt vor denen, die einmal Licht in unsere innere Welt gebracht und ihr Relief verliehen haben. Vielleicht lesen wir sie nie wieder, doch sie wegzugeben, das bringen wir nicht übers Herz.

An diesem Tanka gefällt mir die Zurückhaltung mit der ein entscheidender Vorgang beschrieben wird. Wir wissen nicht um welchen Lesestoff es sich handelt. Der Autor behält seine Welt für sich und das ist gut so. Er erlaubt uns damit zwischen seinen Zeilen nach den Feuern Ausschau zu halten, mit denen wir unsere eigene Welt geschmiedet haben.

Tony Böhle

Ein Tanka, das mich besonders anspricht

als Kind kletterte ich
auf die höchsten Äste
heute ist mir
als hätte ich damals
beinahe den Himmel berührt
                 – Frank Dietrich

Wer denkt nicht manchmal zurück an die Sommer seiner Kindheit? Gab es nicht eine ganze Welt, die entdeckt werden wollte, unzählige Abenteuer, die warteten, und scheinbar endlose Sommerferien ohne Kontrolle durch Lehrer oder Eltern?
Eine solche Kindheitserinnerung ist es wohl, die den Ausgangspunkt für Frank Dietrichs Tanka bildet. Die Äste eines Baums zu erklettern, ist gerade für Jungen eine Herausforderung, die es anzunehmen gilt. Sei es als Mutprobe, im Wettbewerb mit Gleichaltrigen, wer am höchsten klettern kann, oder sei es auch nur zum Spaß. Den ganzen Stolz auf diese Leistung des kleinen Gipfelstürmers, den er noch bis zum heutige Tag in sich trägt, lässt sich schon aus Segment b mit dem Worten "auf die höchsten Äste" ermessen. Nein, nicht irgendwelche Äste, es waren die höchsten! Und den Himmel berühren wie die Oberfläche eines Sees, welch eine unmögliche und deshalb noch reizvollere Vorstellung! Dieses Ziel scheint in greifbarer Nähe gewesen zu sein und lässt die erklommenen Äste nur noch höher, die eigenen Fähigkeiten noch fantastischer erscheinen.
Abweichend vom klassischen Muster setzt Frank Dietrich hier den Umbruch zwischen Oberstollen und Unterstollen nach dem zweiten Segment. Betrachtet man sich den Aufbau des Tanka, ist auch zu erkennen, wie das Wort "Kind" im obersten Segment über den Ästen im zweiten Segment thront und sie so auch erklommen hat. Die beiden Kindheitssegmente a und b stehen auch formal über den übrigen, also über den nachfolgenden Segmenten, die das Hier und Jetzt der Erwachsenenwelt darstellen.
Dem Kind war damals nicht, als hätte es den Himmel berührt. Das ergeht erst dem Erwachsenen im Rückblick so, das wohl auch im Wissen darum, dass Kindheit und Kletterabenteuer für ihn endgültig vorüber sind. Es ist gerade diese Rückschau, die den Leser fragen lässt, was ihn wohl daran hinderte, heute noch einmal auf einen Baum, auf die "höchsten Äste" zu klettern? Wie sich herausstellt, ist die in Frank Dietrichs Tanka gestellte Frage nach der Kindheit und nach der verlorenen kindlichen Unschuld eine interkulturelle Frage, mit der sich viele Autoren und Tanka beschäftigten. Hier ein Beispiel des Japaners Shuji Terayama:

     sun shining
     a boy running
     to catch cicadas
     in a far field
     what have I forgotten? [1]
 
     im Sonnenschein
     hastet ein Junge
     Zikaden zu fangen
     in einem fernen Feld
     was habe ich vergessen? [2]


[1] aus: Kozue Uzawa und Amelia Fielden: Kaleidoscope, Selected Tanka of Shuji Terayama. Übertragen von Kozue Uzawa und Amelia Fielden. The Hokuseido Press, Tokyo, 2008.
[2] Übertragung ins Deutsche von Tony Böhle

Valeria Barouch & Tony Böhle (Auswahl)

Die Tanka-Auswahl

Auf vergilbtem Blatt
tränenverschmierte Tinte,
dazwischen Worte,
die nichts eingebüßt haben
an einstiger Ausdruckskraft.

                 – Ingrid Baumgart-Fütterer

vertraut hab ich dir
an diesem Abend im Herbst
wilde Streunerin
und nun räkelst du dich auf
dem Sofa meines Nachbarn

                 – Eva Limbach

Still stehn
ihn berühren
als dränge durch seine Rinde
die Zeit
vor meiner Zeit

                 – Reiner Bonack

Streifende Sterne
zur ruhlos rauschenden See
dem alternden Maat
von Norden ein Nebelhorn
vage zu Farben der Nacht

                 – Horst Ludwig

durch Raum und Zeit
reisen seine Zeilen
in meinen Kopf
entfachen das Feuer
meiner eigenen Welt

                 – Ralf Bröker

Im Schönstattgebiet
an allen Ecken grüßen
die Heiligtümer  –
Knattern der Pilgerfahnen,
grundiert von meiner Skepsis.

                 – Conrad Miesen

wie Wellen singen
auf den Schwingen des Windes
wie zu tiefster Nacht
übers Land Nebel weben
Zeit als wär's auch Ewigkeit

                 – Beate Conrad

Der Schatten eines Halmes
Zieht sich länger und länger
Im Abendlicht.
Und wo ist eigentlich
Mein eigener Schatten?

                 – Roman Rausch

Eine Sternschnuppe...
alles hat seinen Anfang,
und auch ein Ende —
und ich schluck' Betablocker
die Jahre meiner Zukunft

                 – Beate Conrad

Von Vergangenheit
auf der Straße eingeholt.
Der alte Lehrer
zieht seinen Hut vor dem Herrn,
der ihn als Schüler gehasst.

                 – Wolfgang Rödig

Wie eine Person
ganz und gar ein Augenpaar
beschäftigen kann.
Doch rennt er ihr hinterher,
entzieht sie sich wie der Wind.

                 – Beate Conrad

Ich wiege Worte
entwerfe, verwerfe –
Anarchie auf A4
 
die Lücken sagen mehr
als geschwätziges Papier

                 – Katinka Ruffieux

als Kind kletterte ich
auf die höchsten Äste
heute ist mir
als hätte ich damals
beinahe den Himmel berührt

                 – Frank Dietrich

Mutter ärgert sich
in ihrem Eldorado
über den Schneckenfrass
 
wohldosierte Aufregung
in einem alten Leben

                 – Katinka Ruffieux

Killing Fields…
blicke tief
in die Dunkelheit
der Höhlen
der Schädel

                 – Frank Dietrich

Laub
noch einmal brennt es
süßt das Husten
früher Tage
ist der Nachbar im Urlaub

                 – Dyrk-Olaf Schreiber

auf einer Reha
wegen Burnout
nun sitze ich hier
und blicke hinaus
aufs überfischte Meer

                 – Frank Dietrich

Sommerbrise –
als spräche sie zu mir
die Mohnblume mit den
Lippen ihrer Blütenblätter
formt sie ein rotes Wort

                 – Angelica Seithe

die Schleiereule
hat im Flug eine Feder
verloren
es fällt ein Stück
Mondlicht hinab

                 – Frank Dietrich

warmer Morgenwind
bläst durch meine Bluse –
hautnah
die verblassende
Nähe unsrer Nächte

                 – Angelica Seithe

Während ich noch
den kürzesten Weg
bedenke
um zu dir zu kommen
sind meine Füße schon unterwegs

                 – Ilse Jacobson

auf dem bemoosten
Schoß einer alten Eiche
eng beieinander
von Schatten beflüstert jeder –
sein eigenes Buch

                 – Angelica Seithe

im ersten Frost
an der alten Stadtmauer
späte Rosen
Schutz und Halt suchend
zwei betagte Marktfrauen

                 – Silvia Kempen

der junge Rhein
in Deiche gezwängt
schwach
aus 'nem alten Bunker
der Duft eines Joints

                 – Helga Stania

nicht gewusst
von der Kälte des Schnees
das Mädchen
wärmt mit seinen Händen
seine kleine Puppe

                 – Silvia Kempen

der erste Kuss
sie kann ihn nicht vergessen
dieses schmatzende Geräusch
mit dem die fremde Frau
den Mund auf ihren presst

                 – Erika Uhlmann

Demenzstation
leise fragt er sie nach
ihrem Namen
die winzige Schnecke
im gemischten Salat

                 – Eva Limbach

ich höre gern um Mitternacht
die toten Dinge reden
leider
ist ihr Dialekt
mir völlig unverständlich

                 – Erika Uhlmann

Beate Conrad
Sonne gewendet

zu jener Nacht, der hellen, der Brief vom Freund, dem lieben. Er, der sich immer gewählt auszudrücken pflegte, immer höflich und gescheit mit einem Schriftbild, gestochen klar; er, der Mensch einer unerwarteten Generation, schreibt mir längst vergangenen nun vom Wiedersehen nach dem Tod

     
wo zwei Menschen-
     Seelen sich überlappen,
     wo der Himmel weit,
     und beide sich glücklich zum
     Vermählungsgeschenk machen

     wie ausgewählt
     die Zeit für einen Abschied
     Sommersonnwende
     vom Meer singen Sirenen,
     dem Lied zu folgen nicht schwer

     über die Kuppe
     zum Ufer läuft ein Schatten
     der aus dem Wasser,
     so innig die Umarmung,
     einen Fisch aufspringen lässt

Silvia Kempen
Wellentanz

Beate Conrad & Horst Ludwig
Eine Tankafolge


     das Gefühl
     wenn der vertraute Körper
     unverhofft
     dem Willen nicht mehr gehorcht
     und eigene Wege geht

     der heutige Tag
     ein schwankendes Schiff
     im zarten Rosa
     schwingend von Ost nach West
     des Kirschbaums Zweige

     den Blick rechts und links
     zum Himmel und zum Boden
     Übungen
     das Gleichgewicht der Welt
     wieder neu zu justieren

     durch die Dunkelheit
     den Wellen der Übelkeit
     entkommen
     in Mutters Armen liegend
     wie damals als kleines Kind

     im Krankenhaus
     die Treppe nach oben
     aufgebäumt
     unter den Schritten
     reift eiserner Wille

     gerade gerückt
     die alte Dorfstraße
     mit frischem Birkengrün
     im schlichten weißen Rahmen
     den Betten gegenüber

     nach Haus gekommen
     als sei kein Tag verstrichen
     doch sind schon
     all die Blüten fortgetragen
     vom ersten Sommerwind


     Nebel von der See
     ziehen sich dick und dicker
     an die Stadt heran,
     ziehn sich an der Mauer hoch,
     der Jahrhunderte festen.

     Dick und dicker zieht
     sich kaum ein diffuser Punkt
     mit jungen Sternen
     voll bis zum Urknall, erster
     Versuch, und nochmal von vorn.

     An die Stadt heran
     kommen tausende Schiffe
     voll wilder Krieger
     voll Goldgier und heilgem Hass
     mit Wurfgeschossen, Schwertern, ...

     An der Mauer hoch
     ziehn sich Zerfallskanäle
     ein Gottesteilchen
     Antwort des Universums —
     aber zu welcher Frage.

     Den Jahrhunderte
     festen Kriegern tönen vor-
     aus tiefsten Tiefen
     die fernen Feuer des Alls —
     Quartett zum Ende der Zeit.*

     H.L.: 1, 3; B.C.: 2, 4, 5


* "Quatuor pour la fin du temps / Quartett für das Ende der Zeit" ist der Titel eines Musikstücks von Olivier Messiaen

Ingrid Kunschke
Schnee


     Ein Grab aushebend
     in gefrorener Erde,
     um wieviel müder
     wirkt der Mann mit der Schippe
     da die Maße so klein sind

     "Es war ein Mädchen"
     ist alles, was man hörte
     – Ein Mädchen zu sein
     und aus Mutters Schoß sofort
     in die Kälte einzugehn

     Jenes Land,
     in dem ich einst aufblühte
     und liebhatte,
     birgt jetzt unter Schneeschichten
     den Leichnam eines Kindes

     Ich seh dich schlafen
     in einem kleinen Sarg
     um ihn herum
     das dunkle Erdreich, den Schnee,
     deine Eltern schwarz und blass

     Alles zudeckend
     fällt unentwegt der Schnee
     schweigt die Welt still,
     aber kein Leichentuch
     ist jemals sanft genug

     Das Geräusch des Schnees
     dringt nicht an ihre Ohren;
     kühl gebettet
     hört sie auch im Sommer nicht
     die leichten Schritte der Kinder

     Daheim die Wiege,
     soviel leerer als bislang
     als noch ein Spiel schien,
     was sich jetzt gewendet hat –
     und das Weiß der letzten Milch

     Wie lang bleibt der Schmerz
     um dieses Kind, das fort ist,
     wie lange sein Duft?
     Beharrlich folgt mein Blick
     einer Flocke im Treiben

                    *

     Aus dichten Wolken
     die Schreie der Kraniche;
     in dieser Kälte
     weit und breit kein Ort
     für ihre nächtliche Rast

     Unter ihrer Last
     hat sich die junge Birke
     langsam gekrümmt;
     die Zweige reichen hinab
     in den verharschten Schnee

Erstveröffentlichung: TankaNetz, 2004

Frank Dietrich
Transkreation eines Textes: Haiku → Tanka

Es gibt Texte, die nicht nur aus literarischer Sicht interessant sind, sondern auch eine faszinierende Veröffentlichungsgeschichte aufweisen. Auf einen solchen Text bin ich vor ein paar Monaten zufällig gestoßen. In der Facebook-Gruppe "Myth & Archetype" war zu lesen:
 
     "Who are you, in whose dream I am awake that I cannot sleep tonight?" – Gwee Li Sui
 
Der Autor ist mir persönlich bekannt. Ich habe Gwee im Jahre 2001 während des Studiums in London kennengelernt. Und natürlich wusste ich auch, dass er sich mittlerweile als Schriftsteller und Kulturschaffender einen Namen gemacht hat. [1] Was mich reizte war, abgesehen von der Poesie des Textes, dass er anscheinend ohne das Wissen des Autors verbreitet wurde, was dieser erstaunt, aber nicht abgeneigt zur Kenntnis nahm. Zu diesem Zeitpunkt war dies die einzige Fassung des Textes, die ich kannte. Und da er mir in hohem Maße poetisch erschien, versuchte ich von diesem "Urtext" ausgehend ein eigenes Gedicht – ein Tanka – zu verfassen.
 
Allerdings offenbarten sich schnell die Schwierigkeiten dieses Unterfangens. Einige meiner Entwürfe erschienen mir arg epigonal, andere, die sich weiter vom Original entfernten, konnten mich literarisch nicht überzeugen. Nach ein paar Fehlversuchen wurde mir klar: Das Tanka das ich suchte war schon längst vorhanden – nur eben nicht auf Deutsch und auch (noch) nicht als Tanka. Also übersetzte und adaptierte ich das Original wie folgt:
 
     Wer bist du,
     in dessen Traum
     ich wach bin,
     dass ich heute Nacht
     nicht schlafen kann?
 
Dies ist in meiner Sicht ein ausgezeichnetes Gedicht. Die 5-zeilige Tanka-Struktur mit Ober- und Unterbau erscheint mir geradezu perfekt und die parametrischen Phänomene (insbesondere die Alliterationen, sowie die Assonanzen mit /i/ und /a/) sind subtil aber effektiv. Auch die formale Schlankheit des Texts von nur 19 Silben gibt die Flüchtigkeit eines Traumes sehr gut wieder. Diese technischen und formalen Raffinessen ergeben im Zusammenspiel mit der inhaltlichen, geradezu metaphysischen, Tiefe ein durch und durch gelungenes Tanka.
 
Darüber hinaus hat der Text einen sehr klassischen Zug, mit seiner Thematik des Besuchs im Traum, ein Motiv das sich auch in einigen klassischen Waka des Man’yoshu findet: [2]
 
     Schmerzlich ist es,
     dir im Traum zu begegnen:
     wenn ich erwache,
     taste ich um mich, aber
     meine Hand findet nichts.
                      – Ōtomo no Yakamochi  
           
     Kamst du zu mir?
     Oder ging ich zu dir?
     Ich weiß es nicht.
     War es ein Traum oder wirklich?
     War es im Schlaf? War ich wach?
                      – eine Priesterin des Ise-Schreins an Ariwara no Narihira
 
Zufrieden mit dieser Übertragung ins Deutsche, tauschte ich noch ein paar E-Mails mit Gwee aus, um mir sein Einverständnis zur Veröffentlichung einzuholen und um mich nach der Quelle des Textes zu erkundigen.
 
Die Erlaubnis war schnell erteilt, ihm gefiel meine Übertragung, zu der er noch anmerkte, dass dies nicht so sehr eine "Translation" als eine "Transcreation", also eine Kreativübersetzung, sei – daher auch der Titel dieses Artikels. Was mich jedoch ein wenig verwunderte war die ursprüngliche Fassung des Textes. Es handelt sich nämlich um ein Haiku im 5-7-5 Silbenschema, das Gwee vor einiger Zeit folgendermaßen auf Facebook gepostet hat:
 
     Haiku Based on a Japanese Legend
     -----
     Who are you, in whose
     dream I am awake that I
     cannot sleep tonight?
 
Ein Haiku – wer hätte das gedacht? Ich hätte schwören können in dem Text etwas Tanka-ähnliches ausmachen zu können – aber vielleicht hat meine Affinität zum Tanka mir auch einfach einen Streich gespielt. Jedenfalls zeigt dieses Beispiel nicht nur wie vielseitig das englischsprachige Haiku mittelweile interpretiert wird, sondern auch wie schwer es geworden ist Haiku und Tanka inhaltlich oder thematisch voneinander zu unterscheiden. Aber vielleicht ist eine derartige Unterscheidung ohnehin rein künstlicher Natur und in Anbetracht eines gelungenen Gedichts allenfalls zweitrangig.

Übrigens informierte mich Gwee noch, dass sein Haiku Teil eines geplanten, aber noch nicht veröffentlichungsreifen Haiku-Bands werden soll. [3] Das Bemerkenswerte daran ist, dass sein Text nun schon in drei verschiedenen Fassungen und in zwei verschiedenen Sprachen existiert – und das lange vor der geplanten offiziellen Veröffentlichung. In der Tat ein Text der nicht nur aus literarischer Sicht interessant ist, sondern auch eine faszinierende Verbreitungsgeschichte aufweist.


[1] Gwee Li Sui ist Schriftsteller und promovierter Literaturwissenschaftler. Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen zählen Gedichtbände, literaturwissenschaftliche Arbeiten, sowie der Comicroman Myth of the Stone. Sein neuester Gedichtband, Death Wish, ist im Oktober dieses Jahres erschienen.
[2] Tony Böhle machte mich in einer privaten E-Mail hierauf aufmerksam. Quelle: www.TankaNetz.de, Stand 19.11.2016
[3] Dieses literarische Projekt hat noch keinen Titel und wäre der zweite Haiku-Band des Autors. Der erste, Haikuku, erschien im Februar 2017.

Wettbewerbe, Termine und Veranstaltungen

29. Oktober 2017 - The Snapshot Press Book Awards
Die Snapshot Press Book Awards sind jährlich vergebene internationale Preise für unveröffentlichte Sammlungen von Haiku, Tanka und anderer Kurzlyrik in Buchlänge. Der Einsendeschluss ist der 1. März 2018. Die Gewinner werden am 30. April des gleichen Jahres bekannt gegeben. Die Werke der Preisträger werden danach von Snapshot Press veröffentlicht. Nähere Informationen zu Teilnahmebedingungen und Modalitäten finden sich unter dem Link:
 
14. Oktober 2017 - 2017 World Tanka Competition
Vom 15. November 2017 bis zum 15. Januar 2018 steht allen Interessenten die World Tanka Competition zur Teilnahme offen. Eingereicht werden können bislang unveröffentlichte Tanka in englischer Sprache zum Thema Sonnenaufgang bzw. Sonnenuntergang. Die Gewinner erwarten Geldpreise von insgesamt $ 400. Nähere Informationen zu Teilnahmebedingungen und Modalitäten finden sich unter dem Link:
 
3. Oktober 2017 - THE BRITISH HAIKU AWARDS 2017
Für Mitglieder wie Nichtmitglieder der British Haiku Society besteht noch bis zum 31. Januar 2018 die Möglichkeit Beiträge für die British Haiku Awards 2017 in den Kategorien Haiku, Tanka und Haibun einzureichen. Die Texte müssen in englischer Sprache verfasst und unveröffentlicht sein. Nähere Informationen zu Teilnahmebedingungen und Modalitäten finden sich unter dem Link:
http://britishhaikusociety.org.uk/2017/08/call-for-entries-bhs-awards-2016/

nächste Ausgabe

Die nächste Ausgabe von Einunddreißig erscheint am 15. Februar 2018. Der Einsendeschluss ist der 31. Dezember 2017. Für die Einsendung von Beiträgen bitte ich, die Teilnahmebedingungen zu beachten.

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