Playlist (Martin Thomas) - Einunddreißig - Das Forum für Tanka

Direkt zum Seiteninhalt
PLAYLIST. TANKA
Martin Thomas

Tony Böhle: Playlist. Tanka von Tony Böhle mit Illustrationen von Valeria Barouch. Frankfurt a. M.: edition federleicht 2020. 79 Seiten, 18,00 EUR. ISBN-13: 978-3-946112-00-0.


Das Tanka ist tot, es lebe das Tanka: Moderne Großstadtlyrik in japanischem Gewand
Dass sich neben dem Haiku auch das Tanka als Vertreter der klassischen japanischen Kurzlyrik in Deutschland zunehmender Beliebtheit erfreut, ist ein unumstößlicher Fakt. Genauso evident ist die Tatsache, dass es dringend Reformen bedarf, möchte es nicht ebenso wie sein jüngerer Bruder als lyrisches Experimentierfeld der Generation Ü50 enden, deren kreatives Potential sich allzu häufig in der Wiederholung ewig gleicher Themen und Motive erschöpft. Diesen Handlungsbedarf hat auch Tony Böhle, der Autor der vorliegenden Tanka-Sammlung, erkannt und liefert mit seinem Erstlingswerk Playlist ein beeindruckendes Zeugnis davon, wie die Transgression einer weit mehr als eintausend Jahre alten Gedichtform in den Kontext moderner Lebenswirklichkeit gelingen kann.
Insgesamt bietet der vorliegende Band seinen Leserinnen und Lesern 87 Gedichte, welche sich ungleich auf sieben thematisch zusammenhängende Abschnitte – "Nomaden", "Frisch gestrichen", "Ducken und Bedecken", "Montagsmorgen-Countdown", "Don Quichote", "Playlist" und "Falter ohne Fühler" – verteilen. Schon beim ersten Blättern fallen die überaus gelungenen Illustrationen von Valeria Barouch ins Auge, die dafür sorgen, dass im Falle der zu bewertenden Sammlung durchaus von einem Gesamtkunstwerk gesprochen werden kann, da jede der zehn Lichtmalereien, welche den progressiv-modernen Charakter des Bandes unterstreichen, einem ganz bestimmten Text gewidmet ist und diesen durch eine optische Bildsphäre ergänzt. Den eigentlichen Gedichten vorangestellt ist ein kurzes Vorwort des Autors, in dem dieser sein Verständnis der lyrischen Form des Tanka erläutert und plausibel begründet, warum es immer noch lohnenswert ist, sich dieser Art des lyrischen Ausdrucks zu bedienen. Abgerundet wird der Band schließlich durch ein ausgesprochen informatives Nachwort von Christian Skrey, das auf zwölf Seiten neben biografischen Details zum Autor auch fundierte Analysen einzelner Gedichte im Kontext der Entwicklungsgeschichte des Tanka enthält.
Auf der inhaltlichen Ebene finden sich insbesondere Motive, die dem Genre der Großstadtlyrik zugeordnet werden können. So wird der tägliche Weg zur Arbeit und die Tristesse der sich stets wiederholenden Tagesabläufe ("Nomaden", "Don Quichote") ebenso beschrieben wie die Anonymität des Individuums in der Großstadt und das Gefühl der Entfremdung ("Frisch gestrichen"). Und auch die Angst vor drohenden Gesellschaftskonflikten und Kriegen ("Decken und Bedecken") ist lyrisch verarbeitet. Den weitaus größten Teil der Sammlung nehmen, und hier findet sich eine Parallele zum klassischen Tanka bzw. Waka, Gedichte ein, welche Liebe und zwischenmenschliche Beziehungen thematisieren ("Don Quichote", "Playlist", "Falter ohne Fühler"). Die Stärke des Autors besteht dabei insbesondere in der schonungslosen Weise, in welcher er mit sich und seinen Gefühlen ins Gericht geht. Diese Form der Selbstentblößung funktioniert ausgesprochen gut, da der Autor seine Leserschaft in deren realem Lebensalltag, sei es beim Aufstehen am Morgen, dem Einkauf im Supermarkt oder dem Feierabend auf der Couch, abholt. So wird eine persönliche Beziehung aufgebaut, welche die Leserinnen und Leser förmlich in einer Art Sog vom einen zum nächsten Gedicht ziehen dürfte. Der einzige Kritikpunkt besteht in einer gewissen Monotonie der vorherrschenden Stimmung. So werden die größtenteils desillusionistisch-melancholischen Werke leider viel zu selten durch humoristische und eindeutig lebensbejahende Einlagen aufgelockert, was aber auch der subjektiven Empfindung des Rezensenten geschuldet sein mag.
Betrachtet man abschließend die stilistische Ebene, so merkt man schnell, dass hier jemand sein Handwerk versteht. Ohne sich allzu verbissen an die eigenen Vorgaben zu halten, etabliert der Autor eine fünfzeilige Alternation von kurzen und langen Versen (kurz-lang-kurz-lang-lang), welche in ihrem sprachlich-semantischen Zusammenspiel sehr nahe an die japanische Ursprungsform heranreicht. Darüber hinaus sorgen phonologische Figuren wie Alliterationen und Onomatopoetika, syntaktische Figuren wie Parallelismen und Enjambements sowie zahlreiche Symbole, Metaphern und Vergleiche für eine gestalterische Variabilität, welche durch den wiederholten Einsatz von wörtlicher Rede und typologischen Besonderheiten wie Auslassungen, Gedankenstrichen und Emojis gelungen komplettiert wird. Es bleibt zu hoffen, dass das Erstlingswerk des Autors, das aufgrund seiner thematischen und stilistischen Eigenheiten als deutsches Äquivalent des bekannten Sarada kinenbi (サラダ記念日 "Der Salat-Gedenktag", 1987) von Tawara Machi (*1962) bezeichnet werden kann, von einem möglichst breiten Publikum rezipiert wird und hierzulande ein ähnliches Echo auslöst wie sein japanisches Pendant seinerzeit in Japan. Die ersten Seiten eines neuen Kapitels der Geschichte des deutschsprachigen Tanka sind auf jeden Fall geschrieben.
Samstagabende
zu zweit vorm Fernseher –
eine Zeit als ich
begann mir Unterwäsche
in 3er-Packs zu kaufen
nach und nach
leuchten in den Fenstern
Lichter auf –
jedes ein kleiner Stern
unerreichbar für die anderen
die Zeitung auf dem Schoß,
ein Pappbecher voll Kaffee:
Insignien
all jener, die auszogen,
ihr Glück zu suchen
"Nein, ich möchte
wirklich keine Kinder... "
einen nach
dem anderen sortierst du
die Schrimps aus dem Salat
einzigartig
wie ein Fingerabdruck –
die Playlist
im iPhone ein Negativ
deiner Persönlichkeit
sie steigen herauf
mit einem Schluck Milch:
die Wolken im Tee
und mit ihnen Gedanken
an die Trübnis dieser Welt
gestrandet
in einer Stadt, wo keiner
mich kennt
lieg‘ ich nachmittags im Park
transparent wie eine Qualle
ein :‘(
in deiner WhatsApp sagt,
dass du mich vermisst...
warum zeigst du dich
immer nur in Kürzeln?
das beständige
Klack-Klack der Räder unter
mir dem Rhythmus
eines Herzschlags gleich
bedrückt von hundert Sorgen
Cervantes Don Quijote
auf dem Stapel
Mängelexemplare –
ich kaufe es
aus purer Solidarität
stelle ich mir vor,
du könntest fragen, ob mich
das Gewissen plagt,
lass ich die Blumen lieber
gleich im Laden stehen
Montag, Dienstag,
Mittwoch ... all den Tagen
Namen zu geben,
die sich wie Eier gleichen,
erscheint mir recht merkwürdig
Herausgeber:
Tony Böhle
Bernsdorfer Str. 76
09126 Chemnitz
Deutschland
Redaktion:
Tony Böhle
Valeria Barouch
Birgit Heid
Mail: einsendung@einunddreissig.net
(C) 2023. Alle Rechte bei Tony Böhle und den AutorInnen.
Zurück zum Seiteninhalt