Tanka-Kommentar (Böhle) - Einunddreißig - Das Forum für Tanka

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EIN KOMMENTAR ZU EINEM TANKA VON MARIE-LUISE SCHULZE-FRENKING
Tony Böhle

Stille Nacht
einsame Nacht
allein
mit den guten Wünschen
für fröhliche Weihnachten

Wie haben Sie Ihr Weihnachtsfest verbracht? Ein Frage, die man vielleicht vor 50 Jahren noch absurd gefunden hätte. Denn wie sollte man Weihnachten denn sonst verbringen, als mit der Familie? Auch wenn heute Weihnachten im Kreis der Familie für die meisten noch die selbstverständliche Antwort bleibt, wird es keine Ausnahme mehr sein, auch andere Antworten zu erhalten. Einer Umfrage des ARD-Deutschlandtrends zufolge hat jeder zehnte Deutsche Angst, sich an den Feiertagen einsam zu fühlen. Besonders groß ist diese Angst bei jüngeren Menschen zwischen 18 und 34 (17%) sowie bei älteren Menschen ab 65 Jahren (10%). Das ist wohl das Ergebnis veränderter Lebenswirklichkeiten des Models "Familie". Die Gesellschaft wird mobiler, Kinder ziehen in andere Städte oder Länder, Partnerschaften zerbrechen, Menschen bleiben kinderlos oder Familien zerstreiten sich. Es wundert auch nicht, dass gerade in dieser Zeit Ängste vor Einsamkeit besonders offen zu Tage treten, da Weihnachten in der gesellschaftlichen Wahrnehmung eine immer weitergehende Entleerung religiöser Inhalte erfährt und sich zu einem Fest der Familie entwickelt, die eben deren Abwesenheit besonders deutlich macht. Einige greifen da auf den Ersatz durch Freunde zurück, fliehen mit einem Urlaub über die Feiertage in andere Gefilde oder lassen Weihnachten als die skurrile Erscheinung einer Gesellschaftshysterie emotional unbeteiligt an sich vorüber ziehen. Doch was ist mit denen, die all das nicht können oder möchten?
Wie es in einem solchen Menschen aussehen kann, der unter Weihnachtseinsamkeit leidet, zeigt das obenstehende Tanka. Dessen Beginn "Stille Nacht" ist nicht nur der Anfang des wohl bekanntesten Weihnachtsliedes überhaupt, sondern auch eine Beschreibung der tatsächlichen Geräuschkulisse um das lyrische Ich. Keine Kinder, Eltern, Freunde oder andere menschliche Gesellschaft, die die Stille vertreiben könnten. Vielleicht nur die eigene Stimme des lyrischen Ichs, das beginnt, das genannte Lied für sich allein anzustimmen vielleicht als Erinnerung oder Trost und schon im zweiten Takt von der "heiligen Nacht" in die "einsame Nacht" kippt und verebbt. Was bleibt dem lyrischen Ich also noch, nun da es "alleine" ist? Die "guten Wünschen / für fröhliche Weihnachten", die zum Fest vermutlich in Form von Karten und Briefen im Kasten lagen. Ob sie wirklich ein Trost sind oder das schmerzliche Empfinden bitterer Ironie auslösen lässt sich wohl leicht herauslesen.
Herausgeber:
Tony Böhle
Bernsdorfer Str. 76
09126 Chemnitz
Deutschland
Redaktion:
Tony Böhle
Valeria Barouch
Birgit Heid
Mail: einsendung@einunddreissig.net
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