Ausgabe Mai 2019 - Einunddreißig

Einunddreißig
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Ausgabe Nr. 25 Mai 2019

Tony Böhle

Editorial

Japan hat einen neuen Kaiser. In diesem Zusammenhang von einer Zeitenwende zu sprechen, mag für unsere Ohren wohl etwas übertrieben klingen, doch entspricht es durchaus der kalendarischen Realität. Obwohl auch im Land der aufgehenden Sonne unser westlicher Kalender gebräuchlich ist, beginnt mit dem Amtsantritt des Tennos eine neue Jahreszählung, die unter seiner Regierungsdevise steht. So endete mit der Regentschaft Kaiser Akihitos am 30. April die Heisei-Ära im Jahr 31 und mit der Amtsübergabe an seinen Sohn Naruhito begann am 1. Mai das Jahr 1 der Reiwa-Ära.
Seit der doppelten Katastrophe aus Tsunami und Reaktorunglück am 11. März 2011 hört man immer wieder von gesellschaftlichen und politischen Konflikten zwischen einem Konglomerat aus Politik und Atomlobby auf der einen und besorgten Bürgern auf der anderen Seite. Zudem gibt es heftige Kontroversen über die Neuauslegung des Artikels 9 der Verfassung, der die Selbstverteidigung des Landes regelt. Dabei sollte das Streben nach "schöner Harmonie" – so die offiziell verwendete deutsche Übersetzung – wohl einen langen und steinigen Weg bedeuten. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang aber auch, dass der Begriff der „schönen Harmonie“ (Reiwa) aus dem Buch V des Man’yōshū entlehnt ist. Dort heißt es im Vorwort zu 32 Gedichten, die anlässlich einer Feier geschrieben wurden:

于時 初春令月 氣淑風和 梅披鏡前之粉 蘭薫珮後之香

"Es war zum Frühlingsbeginn in einem schönen (, rei) Monat, als die Luft klar und der Wind harmonisch (, wa) war, als die Ume in der Schönheit einer sich mit Oshiroi schminkenden Frau erblühten und die Orchideen sie mit ihrem Duft schmückten." *

Solche Feinheiten zu verstehen oder gar zu bemerken, mag für uns im Westen fast unmöglich sein. Sind sie doch nur eine vage Andeutung, ein kleiner Verweis, der sich nur den Eingeweihten erschließt. Das setzt eine tiefgreifende Kenntnis von über 1300 Jahren dichterischer Tradition voraus. Auch wenn es etwas Entsprechendes bei uns im Westen nicht gibt, können wir ebenso mit subtilen Fingerzeigen arbeiten um den Leser zu überraschen. Diese Andeutungen zu entdecken, lade ich alle Leserinnen und Leser zur Mai-Ausgabe von Einunddreißig ein.

* https://de.wikipedia.org/wiki/Reiwa-Zeit, Stand: 12. Mai 2019

Valeria Barouch

Das Tanka international Teil XIII - Pamela A. Babusci

Pamela A. Babusci ist eine Haiku, Tanka und Haiga Künstlerin, deren Werke zahlreiche Auszeichnungen erhielten. Zu diesen Preisen zählen namentlich: Auszeichnung des Museums für Haiku Literatur, ein erster Platz im Mainichi Haiku Wettbewerb, ein erster Platz im Mount Fuji Tanka Wettbewerb (Japan). Des Weiteren gewannen ihre Tanka erste Preise in Australien, Neuseeland und in den USA. Sie hat verschiedene Bücher illustriert, u. a. Full Moon Tide: The Best of Tanka Splendor Awards, Taboo Haiku, Take Five: Best Contemporary Tanka Vol. 1, The Delicate Dance of Wings, Chasing the Sun: selected haiku from HNA 2007 und moonbathing: a journal of women's tanka. Von ihr stammen auch die Logos der Konferenzen Haiku North America 2003 in New York und 2007 in Winston-Salem, NC.
Ihre Haiga (Haiku und Tanka mit Malereien) erschienen in Haiga-online, The Haiku Foundation, Simply Haiku, Frameless Sky sowie in zahlreichen Haiku und Tanka Zeitschriften. Sie hat mit verschiedenen figurativen und abstrakten Malern in Rochester, NY zusammengearbeitet in Kunstgalerien und Ausstellungen und ist Mitglied der Rochester Artists' Breakfast Group und des Pittsford Art Club.
Pamela ist Gründerin und Herausgeberin von Moonbathing: a journal of women tanka, der ersten internationalen Veröffentlichung, welche ausschließlich Frauen vorbehalten ist. Autorinnen, die mehr über moonbathing erfahren möchten, können sich direkt an Pamela wenden über: moongate44@gmail.com

a thousand reasons
to leave him
a thousand reasons
to stay...
withering bamboo
              A Thousand Reasons 2009
              (ATR)

tausend Gründe
ihn zu verlassen
tausend Gründe
zu bleiben...
Bambus welkt dahin
              A Thousand Reasons 2009
              (ATR)

you altered my body
to fit into yours...
how gracefully
the paper-whites bend
towards the moon
              ATR

meinen Körper
hast du deinem angepasst...
wie anmutig
die Weihnachtsnarzissen
sich zum Mond beugen
              ATR

chrysanthemum moon
i peel off another layer
of sorrow
that nobody
will notice
              ATR

Chrysanthemenmond
ich streife eine weitere Schicht
von Sorgen ab
damit keiner
sie bemerkt
              ATR

bringing a pot of coffee
& cigarettes
to my mother's grave
we have never spoken
so honestly
              ATR

mit einer Kanne Kaffee
und Zigaretten
an Mutters Grab
nie haben wir so offen
gesprochen
              ATR

scattered lovers
never a husband
these cherry trees
raining petals
everywhere, nowhere
              ATR

einzelne Liebhaber
nie einen Ehemann
diese Kirschbäume
streuen Blütenblätter
überall, nirgendwo
              ATR

as you undress me
you can never remove
all my childhood wounds
i keep hidden
even from myself
              A Solitary Woman 2013
              (ASW)

wenn du mich entkleidest
kannst du sie nie entfernen
all meine Kindheitswunden
ich halte sie verborgen
selbst vor mir
              A Solitary Woman 2013
              (ASW)

never satisfied
never satiated
no wonder
i count the stars
alone
              ATR

nie zufrieden
nie gesättigt
kein Wunder
zähle ich die Sterne
ganz allein
              ATR

buying a new
cherry blossom kimono
as if it could
replace
his spring kisses
              ATR

ich kaufe einen neuen
Kirschblüten-Kimono
als könnte er
seine Frühlingsküsse
ersetzen
              ATR

a solitary woman
knows a heartache
or two
tossing scarlet petals
into her evening bath
              ASW

eine einsame Frau
kennt einen Kummer
oder zwei
während sie rote Blüten
in ihr Abendbad wirft
              ASW

torrid red tulips
expired in the vase
as if to let me know
your passion
has died
              ATR

feuerrote Tulpen
in der Vase erloschen
als wollten sie mir sagen
deine Leidenschaft
ist gestorben
              ATR

 
Übersetzt und veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Valeria Barouch & Tony Böhle

Tanka der Redaktionsmitglieder

wenn mich dereinst
die Füße nicht mehr tragen
in einem Becken
lass ich sie Wellen schlagen
zum Rauschen einer Muschel

                – Valeria Barouch

du hast deine
Zukunftspläne und
ich hab meine…
so beginnen wir das Spiel
Reise nach Jerusalem
               – Tony Böhle

er hat sich doch noch
zum Guten gewendet
beteuert die Dame ---
mit jedem Seufzer nährt sie
in mir neue Hypothesen

                – Valeria Barouch

wie einen Kokon
streifst du die Bluse ab
als wolltest du
zum Takt von Shotgun*
deine Flügel entfalten
               – Tony Böhle

* ein Song von George Ezra

Valeria Barouch & Tony Böhle

Tanka-Auswahl Mai 2019

Aus den Einsendungen, die zwischen dem 1. Januar und dem 31. März 2019 eingereicht wurden, hat die Jury, bestehend aus Valeria Barouch und Tony Böhle, für die Mai-Ausgabe von Einunddreißig eine Auswahl von 30 Tanka getroffen. Jeder Teilnehmer konnte bis zu zehn Tanka einreichen. Die ausgewählten Texte stehen nachfolgend alphabetisch nach den Autorennamen aufgelistet. Die Jurymitglieder haben jeweils ein Tanka, das sie besonders angesprochen hat, hervorgehoben und kommentiert.

Valeria Barouch

Ein Tanka, das mich besonders anspricht

der Vereinsboss sagt
die Würde des Menschen
ist unantastbar
manchmal spricht er auch
von Spielermaterial
               – Pitt Büerken
Es gibt Wortkonstruktionen, die sofort ein gewisses Unbehagen hervorrufen, obwohl sie häufig benutzt werden. Es geschieht immer dann, wenn zwei Worte uns gegensätzliche Informationen liefern, mit denen unsere Weltanschauung und unser Wertsystem in Konflikt geraten. Materialien sind Werkstoffe, die gemäss ihren Eigenschaften in die verschiedensten Gegenstände verarbeitet werden. Man spricht nicht von Materialwürde. Es kommt niemandem in den Sinn zu hinterfragen ob Stahl lieber zu Kunstwerken geschmiedet werden möchte oder zu Brückenpfeilern. Ein Spieler jedoch ist ein Mensch, den wir automatisch mit den Segmenten b) und c) identifizieren. Die Verbindung dieser beiden Begriffe empfinden wir als abstossend, weil wir ahnen, dass der Erste dieses Gebildes seine Würde verliert weil er zum Werkstoff wird, der für die Zwecke des Vereins geformt werden soll.
Bei Segment e) dachte ich sofort an einen Begriff, mit dem ich mich in der Arbeitswelt nie anfreunden konnte: "Human Resources". Es gab eine Zeit, in der diese Abteilung vielerorts einfach Personaldienst hieß. Seine Aufgaben beschränkten sich meistens auf Lohnbuchhaltung und Absenzenkontrolle. Der Name gab wohl kaum zu Beanstandungen Anlass, erlaubte er doch jedem Arbeitgeber, wie Arbeitnehmer ihn zu seinen Gunsten auszulegen. Der Arbeitnehmer konnte sich in der Illusion wiegen man stehe hier vor allem zu seinen Diensten. Der Arbeitgeber dagegen verstand darunter sicherlich schon damals die Verwaltung der vom Personal zu leistenden Dienste. Irgendwann wurde klar, dass man in Arbeitende investieren muss, damit ihre Fähigkeiten mit den schnellen Entwicklungen Schritt halten können. Ich erinnere mich noch genau an den Zeitpunkt an dem mein damaliger Arbeitgeber zum ersten Mal das Personal zu Sprachkursen anspornte, die er zu bezahlen bereit war. Es war der Beginn einer neuen Epoche. Mit ihr hielten neue Begriffe Einzug im Personalwesen dessen Aufgaben damit stetig wuchsen: Mitarbeiterentwicklung, Beurteilungs- und Förderungsgespräche, Zufriedenheitsanalysen, Work-Life-Balance, Gesundheitsmanagement, Team-Building, usw. Der Mitarbeitende wurde in diesem Prozess irgendwann zum Humankapital, das von Human Resources verwaltet wird. Trotz der Investitionen in seine Fähigkeiten, macht es diese Terminologie manch einem schwer zu glauben, dass er im Unternehmen noch als Mensch zählt und nicht nur als abbaubare Mine.
Auch die Welt des Sportes pflegt ein besonderes Vokabular. Im Fußball wird von Transfermarkt, Spielerverkauf, und Marktwert gesprochen. Es ist somit nicht verwunderlich, wenn auch einem Vereinsleiter, der von unantastbarer Menschenwürde spricht, ein Lapsus unterläuft.
Übrigens, das Wort Humankapital wurde in Deutschland im Jahre 2004 zum Unwort des Jahres ernannt.

Tony Böhle

Ein Tanka, das mich besonders anspricht

alles, was sie hat
steckt sie in das Leben ihrer Kinder
ihre besten Jahre
hält sie in ihren rauen Händen
formt das Hack zum Kloß
               – Ralf Bröker
In den letzten Monaten ist eine hitzig geführte Debatte über die sprachliche Gleichstellung der Geschlechter entbrannt. Die Frage ob das sogenannte „generische Maskulin“ in Formblättern und Anschreiben die Gleichstellung im Alltag behindert oder ob "gegendert" werden sollte, wird von Betroffenen, Politikern, Autoren und auch Sprachwissenschaftlern kontrovers diskutiert. Ganz gleich, welche Position man selbst in dieser Debatte vertritt, vielen vorherigen Generationen von Frauen und Müttern wären die geführten Diskussionen angesichts ihres harten Alltags wohl als Luxus erschienen.
Einen Einblick darein, was das Los vieler Frauen bedeutete, gibt uns das obenstehende Tanka. Betätigt man sich detektivisch, lassen sich Lebensumstände der im Tanka namenlosen Mutter etwas näher umreißen. Allem Anschein nach handelt es sich um eine alleinstehende Frau, wie die erste Zeile durch die Formulieren "alles, was sie hat" belegt. Die Nennung und damit Betonung des Pronomens "sie" verdeutlicht, dass es nicht die Habe der Familie, der Eltern oder des Ehemannes ist, sondern ganz allein die ihrige. Der Verweis darauf, dass die Mutter allein alle Opfer gebracht hat, zeigt sich auch an der dreimaligen Wiederholung des Possessivadjektivs "ihr" in den Zeilen zwei bis vier. Allgemein gelten Wortwiederholungen im Tanka als Mangel. Allerdings liegt nahe, dass eine solche Wiederholung hier bewusst zur Betonung eingesetzt ist, da die dreimalige Nennung dem Verfasser leicht aufgefallen wäre. Das gleiche gilt auch für das Pronomen "sie" in den Zeilen ein und vier. In der Formulierung des Tanka trägt sie keinen Namen – wird nicht einmal als Mama oder Mutter benannt. Für den Leser wird sie damit weniger als Person, denn viel mehr durch Ihre Funktion und Taten greifbar, und könnte so stellvertretend für viele ungenannte Frauen mit dem gleichen Los stehen. Zwei weitere Punkte lassen sich ebenfalls noch fassen. Zum ersten ist "sie" die Mutter mehrerer Kinder wie aus Zeile zwei ("ihrer Kinder") hervorgeht. Zweitens ist ihr Leben von harter körperlicher Arbeit geprägt, die "ihren rauen Händen" erklärt. Die Formulierung „ihre besten Jahre / hält sie in ihren rauen Händen“ legt nahe, dass es sich wenn nicht um eine ältere zumindest um eine gealterte Frau handelt. Besonders beeindruckend ist wohl der Schluss des Tanka, da der Autor hier einen eindrücklichen, vielleicht sogar irritierenden Vergleich zwischen den "besten Jahren" der Mutter und dem "Hack" zieht, dem sie mit ihren Händen erst wieder eine Gestalt gibt.
Man mag darüber hinweglesen, doch auch die Perspektive, aus der der Text verfasst wurde, verdient eine ausdrückliche Beachtung. Es handelt sich nicht um die Klage einer alleinstehenden Mutter, die den alltäglichen Härten des Lebens standhalten muss, sondern um den Blick einer außenstehenden Person auf sie. Wer regelmäßig die Ausgaben von Einunddreißig liest, wird vielleicht schon bemerkt haben, dass es noch weitere Tanka, Sequenzen und Tanka-Prosastücke gibt, in denen sich Ralf Bröker dieser Thematik annimmt.

Valeria Barouch & Tony Böhle (Auswahl)

Die Tanka-Auswahl

Nebelverhangen
wirkt der Himmel wie versteckt,
eine Geisterwelt
den Nebelschwaden entsteigt,
Gänsehaut bei mir auslöst.

                – Ingrid Baumgart-Fütterer

Vom Buch die Augen
aufhebend für einen Moment,
fällt mein Blick durchs Fenster:
Die tausend Dächer der Stadt –
sonnenüberglüht.

                – Sascha Heße

es brummt
nach einem milden Winter
die erste Fliege
um die Tupperschüssel mit
Oma Schmidt und Damen in Pink

                – Ralf Bröker

zwischen den Wolken
dreht sich das kleine Mädchen
im Apfelgarten
die weiß gestrichene Bank
immer schon mein Lieblingsplatz

                – Silvia Kempen

kollektiv stellen wir
die Zeit um auf Sommer
diskutieren ewig
ob wir den Kindern die Welt stehlen
oder doch unseren Nachbarn

                – Ralf Bröker

Paradekissen
bestickt von einer Dame
die ich nicht kenne –
woher der Rotweinfleck stammt
wird auch sie nie erfahren

                – Eva Limbach

lass mich sterben
junger Mann, ich kann nicht mehr
du siehst doch
die Schmerzen in meinem Gesicht
du hörst doch deine innere Stimme

                – Ralf Bröker

rastlos umrundest
du die Pfingstrosenknospe
kleine Ameise
was wird geschehen wenn
unsere Welten sich öffnen

                – Eva Limbach

alles, was sie hat
steckt sie in das Leben ihrer Kinder
ihre besten Jahre
hält sie in ihren rauen Händen
formt das Hack zum Kloß

                – Ralf Bröker

Das Knacken der Glut.
Schmorende Weihrauchperlen
verwandeln den Raum –
So wird aus dem Sterbeamt
eine Osternachtfeier.

                – Conrad Miesen

zweiundzwanzig Uhr
Flaschensammler mit Säcken
voller Flaschen
der Leergutautomat
schon außer Betrieb

                – Pitt Büerken

Die Tränen fließen.
Die Gedanken sind bei ihm.
Das soll aufhören!
Mit Wut im Bauch verstärkt sie
den Druck aufs Zwiebelmesser.

                – Wolfgang Rödig

der Vereinsboss sagt
die Würde des Menschen
ist unantastbar
manchmal spricht er auch
von Spielermaterial
               – Pitt Büerken

Verschneiter Wald –
Wir betreten die Kathedrale
dieses Morgens
Aus den Säulen hoher
Buchen rieselt Sonnenlicht

                – Angelica Seithe

erste Liebe
er erinnert sich noch
lebhaft an sie
wer bist du? fragt er,
wenn ich komme

                – Pitt Büerken

Der Wanderweg
als hätte er das Schneetuch
entzwei gerissen
für die blaue Ankunft   
des Frühlings

                – Angelica Seithe

der Sonnenuntergang
im Schwanz
des blauen Pfaus
wie er sich öffnet
und wieder schließt

                – Frank Dietrich

Warum nicht
unter Mandelblüten
wandern
und den Winter abstreifen
am blauen Himmel?

                – Angelica Seithe

wonach meine Finger
vergeblich fühlen
unser Kind
wie es sich bewegt
in deinem Bauch

                – Frank Dietrich

rotes Tor
mitten im See –
nur Gebete und
Vögel können hindurch
und den Himmel berühren

                – Angelica Seithe

meine alte Haut
abgestreift, meine neue
noch ganz weich
wie ruhig du schläfst
an diesem Morgen danach

                – Frank Dietrich

Morgens kommt der Tau;
Mit ihm färben sich taktvoll
Die Wolkengedanken.
Komm langsam, Tag, und warte
Auf jede Farbe; lange.

                – Maggie Tschörner

Schweigen
zwischen dir und mir
ein stiller See
bisweilen
ein totes Meer

                – Frank Dietrich

Sonnenuntergang
das Hochhaus über Gärten
schluckt den letzten Strahl
und wirft ihn in den Himmel
dass der ihn neu verwende

                – Erika Uhlmann

jetzt sind wir schon
sechs Jahre verheiratet
mir scheint, noch immer
benutzt er seinen Kamm nur
wenn ich es nicht sehe

                – Gabriele Hartmann

ja, ich weiß es schon
unser kleines Haus
es muss dem Neubau weichen
ich bin doch auch vernünftig
nur 'nen kleinen Rundgang noch

                – Erika Uhlmann

früher waren sie
ihm wichtig – unsre Gespräche
heut schielt er
über den Rand der Brille
und lässt den Daumen im Buch

                – Gabriele Hartmann

Gerade noch
habe ich es gesehen
das Gesicht in den Wolken

Jetzt bleibt nur ein blauer Himmel
und dieser Gedanke

                – Linda Weidmann

auch Synchronschwimmer
nehmen Kälte unterschiedlich
wahr
seufzt er
und wärmt mir die Füße

                – Gabriele Hartmann

Mal zwei, mal vier,
mal fünf Male hintereinander
Die Rufe der Krähe

Wenn ich wollte,
könnte ich ihr antworten.

                – Linda Weidmann

Ralf Bröker
Scibun 12

In diesem Trümmerfeld hatte er nun lange genug herumgewühlt. Jetzt wandte er sich der Ausgrabungsstelle zu, die bislang nur von den Assistenzkräften durchgearbeitet worden war. Beiläufig um nicht zu sagen lustlos stocherte er mit der Kohlenstoffsonde in der Asche. Nichts. Natürlich nichts. Diese Kreaturen hatten ja mit ihren Nuklearwaffen alles Organische auf ihrem Planeten vernichtet, und in den Jahrtausenden der Kontaminierung hatten die heißen Winde, der säurehaltige Regen und die massiven Temperaturstürze der Winterzeit auch Metall und Beton verwittern lassen.

Nur sehr selten fanden sich große Bronzeklumpen, die womöglich einmal zu einem Rohstofflager gehörten. Die an ihnen nur schwach vorhandenen Zeichen waren bislang nicht entziffert worden. Vermutlich kennzeichneten sie die Art des Materials und die Fundstelle im Materiallager.

Ein ziemlich verrückter Typ aus der Entkryptologie hatte die schräge These aufgestellt, dass es sich um Namen und Zahlen handeln könnte. Dies wurde allerdings von allen anerkannten Fachleuten verworfen, da diese Zeichen mehr oder weniger zweidimensional erstellt worden waren und es nicht vorstellbar sei, mit einer so begrenzten Schrift jene komplexen Techniken zu erstellen, die offensichtlich zum Tode dieser Zivilisation geführt hatten.

Er stocherte weiter in dem grauen Staub der Grabungsstätte, schob kleine Granittafeln an die Seite, die ebenfalls diese primitiven Zeichen zeigten. Häufig kam ein langer Längsstrich vor, durch den ein kurzer Querstrich geht. Vielleicht eine primitive Selbstdarstellung der Wesen, die hier einst lebten? Oder gar ein religiöses Zeichen? Das würde auf jeden Fall die These untermauern, die Kreaturen hier seien gar nicht fähig gewesen, nukleare Waffen zu entwickeln, und eine der vielen invasiven Strukturen des Universums hätten sich hier ausgetobt.

Ach, was soll's, sagte er sich, legte den Arbeitsstock zur Seite, holte eine Patrone mit Krpjg aus dem Bauchsack, stach seinen Nahrungstentakel hinein und saugte die neonblaue Leckerei in Sekunden ein.

  der letzte Mensch
  gräbt sich ein letztes Bett
  in jene Wüste
  die wir ihm bereiten
  sogar im Schlaf, im Schlaf

Beate Conrad
Kunstwerk

Es riecht nach Geschäftigkeit, nach Radierungen, Rauch und Entfernungen. Reißbrettreviere frisch zu markieren.

  Gar nicht so einfach,
  nach bester Möglichkeit frei
  und selbstbesinnend,
  die Welt sich vorzustellen
  mit kaum endlicher Weite.

Selbst ein begnadeter Künstler oder ein Gott bei Verstand würde mehrere Anläufe brauchen, bis er einsähe, dass sein Werk ganz gleich wie viele Tage, Monate oder gar Jahre er haderte in der Realität wohl kaum seiner Vorstellung entspräche, ganz zu schweigen, eine ihm gar ebenbürtige Schöpfung würde.

  Doch schon entschieden,
  ob es regnet oder schneit,
  wie hoch der Himmel,
  wieviel Erde verblieben
  unter Träumen aus Beton.

Ein weißhaariger Herr steht auf einem Balkon leicht über die Balustrade gebeugt in der eingeschlossenen Stadt.  Er lockt Straßenkatzen mit seinem sanft ertönenden "Miez, Miez".  Dabei zerreißt er Papier in kleine Fetzen.  Nach diesen weiß niedersegelnden Schnipseln strecken die dürren Katzen ihre Pfötchen aus.  Im rechten Augenblick spuckt der Alte aus und lacht, wenn er sein Ziel getroffen hat.

  Aufhören würde
  das Flammenzüngeln, aber
  bis dahin, so weit
  man hört, ist noch niemand aus
  der Hölle zurückgekehrt.

Beate Conrad & Horst Ludwig
Tanka-Folge [ohne Titel]

Beate Conrad & Horst Ludwig
Tanka-Folge [ohne Titel]


  Danksagefeier –
  unser Schweigen vertieft sich
  beim Gang um den See.
  Schwerer liegt im Magen der
  Entenbraten, eigentlich.

  Schweigen vertieft sich.
  Auch "Fragen Sie..." hatte ja
  geraten, Merkel,
  die Bischöfe, die Fremden
  im Gespräch zu vermeiden.

  Beim Gang um den See
  wie Farben und wie Schatten
  einfach entstehen,
  ein Hauch aus und in der Zeit
  eine Weltenharmonie

  Und schwer im Magen
  älteste Erinnerung.
  Sie sieht in allem
  immer nur das schlechteste –
  lach nicht gleich, ganz zu Unrecht?

  Ente, eigentlich
  gar nicht so schlechte Idee,
  mal was ganz andres.      
  Und bestimmt reden alle
  nach Jahren noch gut davon.

  BC: 1, 3; HL: 2, 4, 5


  Vom andern Ufer
  treiben rotgoldne Blätter
  zu mir herüber.
  Wie die sinkende Sonne
  den Schatten des Hains ausdehnt!

  Rotgoldne Blätter
  wichtigste Verkehrswege
  im Flyer skizziert
  das Programm zum Feuerwerk
  im Herrenhäuser Garten.

  Zu mir herüber
  blickt wer, der beobachtet,
  wen sucht, was weiß ich,
  fragt, ob ich nicht doch wer wär',
  endlich, mitten im Leben.

  Sinkende Sonne
  verschwimmt bald am Horizont
  ein sprühender Stern
  auf fremden Gesichtern liegt
  leise geschenktes Lächeln

  Die Schatten des Hains,
  mächtig dehnen sie sich aus,
  die Segel der Nacht.
  Nochmal winkt wer wem was zu,
  als die Fähre laut ablegt.

  HL: 1, 3; BC: 2, 4, 5

Gabriele Hartmann
mein Diwan verrückt


  zwischen Ost und West
  pendelt mein Blick – mal tiefer
  mal höher – schaukelt,
  schaukelt – überschlägt sich dann
  das Schiff meiner Gedanken

  rollt in der Brandung
  des Abends letzte Kugel
  gegenläufig
  dem rotierenden Kessel
  verfehlt die Glückszahl

  einunddreißig
  erhoben zur Regel
  gebrochen alsbald
  abstrakte Zeichen
  zu setzen

  mich
  auf meine vier Buchstaben
  indes
  von Süd nach Nord
  mein Diwan verrückt


Wettbewerbe, Termine und Veranstaltungen

Moonbathing, a Journal of Women’s Tanka
Das Tanka-Journal "Moonbathing, a Journal of Women’s Tanka" möchte Tanka-Autorinnen ein Forum für ihre Werke bieten. Für die halbjährlich erscheinenden Ausgaben können bis zu 10 Tanka in englischer Sprache eingereicht werden. Alle für diesen Wettbewerb notwendigen Rahmenumstände können der Webseite der Australian Haiku-Society entnommen werden.

nächste Ausgabe

Die nächste Ausgabe von Einunddreißig erscheint am 15. August 2019. Der Einsendeschluss ist der 30. Juni 2019. Für die Einsendung von Beiträgen bitte ich, die Teilnahmebedingungen zu beachten.

(C) 2021
Alle Rechte bei Tony Böhle und den Autoren.
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