Ausgabe November 2014 - Einunddreißig

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Ausgabe Nr. 7 November 2014

Für die November-Ausgabe von Einunddreißig habe ich aus den Einsendungen eine Auswahl von 26 Tanka getroffen und zwei meiner eigenen Texte beigestellt. Ein Tanka, das mich besonders anspricht, habe ich hervorgehoben und kommentiert. Als Sonderbeiträge erscheinen die Tanka-Prosastücke "Aufzeichnung", "Ruhebank", "Yaekagikhime" und "Zeitgrenzen", das Tanka-Bild "Baum des Lebens" sowie eine Vorstellung des Buchs "Kyoto Tanka" von Igor Müller und Reruhi Akiyama.

Editorial

Nun ist es wieder so weit; die Tage werden kürzer, die Blätter fallen und mit ihnen auch die Temperaturen. Wie immer Ende Oktober steht dann wieder einmal ein Ritual auf der Tagesordnung, das weder besonders alt noch beliebt ist, dem sich aber keiner von uns entziehen kann. Die Rede ist allerdings nicht von Halloween oder einem anderen Brauchtum, das in neuerer Zeit zu uns herübergeschwappt ist, sondern der halbjährlichen Zeitumstellung. Für mich, als einen Nach-1980er, hat sie den Charakter einer schon immer dagewesenen Gegebenheit wie Queen Elisabeth II oder die CD. Jedoch scheint der Sinn dieser Maßnahme heute zweifelhafter als jemals zuvor, besonders da anfangs erhoffte Energieeinsparungen auch nach über 30 Jahren weiter auf sich warten lassen. Was unbestritten als positives Element bleibt, sind jedoch die langen hellen Sommerabende, die kaum jemand missen möchte.
Interessanter als die Frage, ob die Uhren nun vor- oder zurückgestellt werden – die Antwort lautete natürlich zurück – ist, was man nun mit der "zurückgegebenen" Stunde anfangen kann. Soll man sie einfach verschlafen? Vielleicht etwas erledigen, das man schon länger vor sich her schiebt, wie den Keller aufräumen oder die Steuerunterlagen sortieren? Oder die Zeit zum Synchronisieren sämtlicher Uhren im Haus nutzen? Wie man sich letztendlich entschieden hat, mag eine Frage des eigenen Charakters sein – in unserer Gesellschaft im Turbogang ist eine Extrastunde in jedem Fall eine Gelegenheit, auch um wieder einmal zu Stift und Papier zu greifen.
Wie viele Stunden jeder einzelne hier in seine literarischen Aktivitäten investiert hat, wird ein Geheimnis bleiben; letztendlich ist es auch irrelevant. Ob ein Text nun als Frucht langer und intensiver Arbeit entstanden ist oder das Ergebnis eines einzigen kreativen Augenblicks, wird man ihm in der Regel nicht anmerken – zum Glück. Sollte der eine oder andere vielleicht doch ein wenig spekulieren wollen, wird er dazu bei der Lektüre der siebenten Ausgabe von Einunddreißig Gelegenheit haben.

– Tony Böhle

Sonderbeiträge

Ein Tanka, das mich besonders anspricht

unausweichlich
das Zirpen der Zikaden
im Abendwind
kommen die Erinnerungen
an den toten Bruder
                 – Silvia Kempen

Was ein Tanka - und ganz besonders ein gutes Tanka - ausmacht, ist über Generationen und Epochen hinweg immer wieder diskutiert und neu definiert worden. Auch wenn diese älteste noch in Gebrauch befindliche Gedichtform der Welt im 20. Jahrhundert vielleicht ihre radikalste Transformation erfahren hat, zum einen durch die Reformbewegungen in Japan selbst, zum anderen durch ihr Überschwappen in die westliche Welt, scheinen doch alle Texte, die uns ansprechen, etwas gemein zu haben. Was dieses Etwas ist, wurde bereits im Vorwort des mittlerweile 1100 Jahre alten Kokin Wakashu auf den Punkt gebracht: "Ohne große Kraftanwendung bewegt [das Tanka] Himmel und Erde, besänftigt die Gefühle unsichtbarer Geister und Götter, schafft Gleichklang zwischen Mann und Frau und bringt Ruhe in die Herzen zorniger Krieger."
Was eine solche Bewegung von Himmel und Erde in uns auslöst, kann schon etwas Subtiles wie ein einzelnes Wort, eine Andeutung oder im Japanischen die Gestalt eines Kanji sein. Entsprechend hängen die Wirksamkeit dieser Stilmittel und auch der Erfolg des Textes von der Vorbildung des Lesers ab.
Silvia Kempens Tanka erzielt seine volle Wirkung beim Leser erst durch dessen Kenntnis der symbolischen Bedeutung einer Singzikade. Stellen wir uns in Gedanken vor, wie sich das Lyrische Ich auf einer Reise in den Süden befindet, auf einer Terrasse oder in einer Taverne sitzt, und der Wind trägt am Abend, wenn es besonders laut erscheint, das Zirpen der Zikaden herüber. Dadurch steigen wieder die Erinnerungen an den verstorbenen Bruder auf. Dieses Bild gewinnt seine besondere Stärke dadurch, dass Singzikaden in ihren Verbreitungsregionen häufig Gegenstand von Mythen sind und als Sinnbild für die menschliche Seele sowie als Symbol für die Unsterblichkeit und Wiedergeburt stehen.
Obwohl Scharnierworte oder -zeilen häufig im Segment c eines Tanka zu finden sind, um ein Umklappen der oberen drei Segmente (kami no ku) zu den unteren beiden (shimo no ku) zu ermöglichen, können diese auch in jeder anderen Position eingefügt werden. Betrachten wir den Aufbau des Textes, erfüllt hier a mit „unausweichlich“ diese Funktionen. So können a, b und c (unausweichlich / das Zirpen der Zikaden / im Abendwind) sowie a, d und e (unausweichlich / kommen die Erinnerungen / an den toten Bruder) zusammen gelesen werden. So ergibt sich für die Lesung von a, b und c die Beschreibung eines natürlichen, wiederkehrenden Phänomens, nämlich das stärker werdende Geräusch von Zikaden (hier auch sprachlich durch die Z-Laute in "Zirpen" und "Zikaden" dargestellt), die angeregt von Artgenossen am Abend zu singen beginnen. Darauf folgt als oft im Tanka angewandtes Prinzip mit der Lesung a, d und e die unausweichliche, innere Reaktion des Lyrischen Ichs, mit den aufsteigenden Erinnerungen an den verstorbenen Bruder, die durch die höhere Gewichtung von d mit acht Silben betont werden. Es ist besonders die geschickte Konstruktion des Tanka mit seinem Scharniersegment a, das hier eine Erweiterung der Aussage bei Einsparung der Worte erlaubt und den Text für mich zu einem besonders gelungenen Tanka werden lässt.

Tanka-Auswahl November 2014

Wie Bausteine
liegen Wörter und Bilder
auf brachem Grund
wo bleibt nur Kalliope
mit den Plänen meiner Welt

                 – Valeria Barouch

herbsteinsam 
draußen am dunklen fenster
florfliegen
außerirdische
zartgrün schimmernde flügel

                 – Ruth Guggenmos-Walter

Ach, ich wüsste schon
wie der Sand im Stundenglas
zu drosseln wäre
doch mit dir, Langeweile,
werd‘ ich mich nicht verbünden

                 – Valeria Barouch

unausweichlich
das Zirpen der Zikaden
im Abendwind
kommen die Erinnerungen
an den toten Bruder

                 – Silvia Kempen

Vertieft in den Krimi
und vor dem Fenster
versinkt
die heile Welt
im Nebel

                 – Christa Beau

um Mitternacht
immer noch das Summen
der Mücken
ich weigere mich
einzuschlafen

                 – Silvia Kempen

angekommen
in der neuen Wohnung –
Großmutters Uhr,
der Nierentisch und
jene Angst vor einem Krieg

                 – Tony Böhle

tief verborgen
und verwurzelt mit mir
das Dschungelkind
doch an manchen Tagen
drängt es sich hinaus

                 – Silvia Kempen

"Alle Menschen
werden Brüder" so heißt es
heute Abend
höre ich Beethoven
in tiefer Resignation

                 – Tony Böhle

In kühlerm Winde
wie das Tageslicht verfällt
auf leeren Feldern
die Schreie der Wildgänse
einen aufblicken lassen

                 – Horst Ludwig

Frühlingslicht blitzt
bald
taut die Schneestille auf
den Spuren
der neuen Autobahn

                 – Reiner Bonack

Nacht schwingt ihre Fahn
um den runden Wintermond,
jede E-Info
flach in der Manteltasche,
den Herzschlag zum Ewigen.

                 – Horst Ludwig

an diesem Baum
ging uns immer die Sonne
in die Nacht voraus
jetzt liegst du hier wie schlafend
in einem engen Pappkarton

                 – Ralf Bröker

Ein Hund kläfft von links,
ein andrer jenseits der Schlucht
im Dorf Todoque
Ach, mitten in meinem Kopf
entspinnt sich ein Dialog.

                 – Conrad Miesen

Liegen zwischen den
Farben des Regenbogens
Deiner fremden Welt
Andere Wellen, Liebste,
Als bei uns auf Rigel vier?

                 – Ralf Bröker

Ganz zu entschweben
mit meiner Gartenschaukel –
Der Himmel dreht sich
und Sonnenblumen neigen
sich über ein leeres Buch.

                 – Conrad Miesen

schlecht geschlafen
nicht gefrühstückt
und die Bahn verpasst:
heute bin ich
ein stacheliges Etwas

                 – Frank Dietrich

Ein Regentag ist
nach diesem großen Sommer
der wahre Balsam.
Auf dem Balkongeländer
tröpfelt’s im Takt von Chopin.

                 – Conrad Miesen

Magengeräusche…
eines Tages werden sie
zu Walgesängen
der Puls in meinen Ohren
zu Meeresrauschen

                 – Frank Dietrich

Ein Blick
durch das Krankenhausfenster
nur draußen gilt
die Freiheit
des Vogels

                 – Martina Müller

eine Kröte
durchdringt den schwarzen
Spiegel des Teichs –
Mondscherben
und das Klirren des Wassers

                 – Frank Dietrich

Am Morgen danach.
Die Zigarettenstummel
im Aschenbecher
als greifbares Ergebnis
des hitzigen Zwiegesprächs.

                 – Wolfgang Rödig

welkende Blätter –
mit Leichtigkeit tanzen sie
mit geschlossenen Augen
mit dem der einmal
ihr alles war

                 – Heike Gericke

Die schwarze Bronzefigur
auf seinem Grab
denkt immer noch nach –
als wär das Problem seines Lebens
nicht längst schon gelöst

                 – Angelica Seithe

im gläsernen lift
kein blick
und kein wort verloren
und doch
kein halt

                 – Ruth Guggenmos-Walter

Wollgras
Wer immer davonging –
das Leben
im Sommerwind leicht
fliegt dahin

                 – Angelica Seithe

vogelscheuche –
an langen schnüren
drehen sich cds…
blinkende lichtgespielinnen
herbstlicher sound

                 – Ruth Guggenmos-Walter

auf dem Totenbett
seine Schuhe ungeputzt
an der Sohle noch
das kleine Eichenblatt…
ihr langer Spaziergang mit ihm

                 – Angelica Seithe

                   für Tatjana A. und Peter Kurzeck

Aufzeichnung

Im Innenhof verbrannte Wäsche.
Eine Frau nahm das klingelnde Mobiltelefon ab
und was von ihrer Schwester übrigblieb.
Die Kugeln..., sie wollten nicht töten.
 
 
    Der Atem fremder
    Seelen auf Scheiben hinter
    lassen einen Film:
    Take One, Take Two, Take Three, Take...
    entire cities away.

– Beate Conrad

Ruhebank

Ich lebe im amerikanischen Mittelwesten, irgendwo im Hinterland, aber keine Viertelstunde mit dem Auto von der kleinen Stadt, wo ich vor meiner Entlassung in Ehren an einem College lehrte, was ich studiert hatte und dazu weiter kritisch beobachtete. Meinem Haus gegenüber ist ein Friedhof mit einer Bank, auf der ich jedoch noch nie jemanden habe sitzen sehen. Leute sind da eigentlich nur bei Beerdigungen und die, die den Rasen mähen, und natürlich die Grabarbeiter bei einem Todesfall, aber von allen denen ruht sich nie wer auf der Bank aus. Die gehen ihren Anliegen da normal nach, und dann kehren sie zu ihrem normalen Leben zurück.
Von zu Hause bekomme ich gerade die Nachricht, daß mein Nebenmann von den letzten Jahren in der Schule tot ist. Er war zwei Monate jünger als ich. Weil das Wetter heute Gott sei Dank nicht so schwül ist und sogar etwas kühler als normal und also angenehm erfrischend, gehe ich hinaus, und ich setze mich auf diese Bank auf dem Friedhof, und ich sehe von da aus dem Schatten über die Straße auf mein Haus.

    Sieh nach den Sternen,
    doch acht' auch auf die Gassen;
    sonst kommst nicht weiter,
    sagte praktisch mein Vater. 
    Alt bin ich ja geworden...

– Horst Ludwig

Stugl am Rande der Welt

Nur wenige Kilometer hinter dem Graubündner Terrassendorf Latsch hatten wir unser Ziel erreicht: ein Ort namens Stugl in fast 1600 Meter Höhe mit einem wahren Miniaturkirchlein.

Dieses romanische Gotteshaus mit stubengroßem Oratorium bietet in der Tat nur Raum für ‚zwei Dutzend Seelen‘, wie es in einem alten Reiseführer heißt. 1956 entdeckte man dort bei Renovierungsarbeiten völlig überraschend Fresken aus der Zeit um 1360 von einem Nachfolger im Bannkreis Giottos. Anbetung der Könige, Abendmahl, Judaskuss und Dornenkrönung waren noch relikthaft zu erkennen.

Dann die kleine Kirche umrundet und eine Stiege bis tief in den Glockenturm hinein hochgeklettert, wo dunkel dröhnend und seltsam das Räderwerk der alten Turmuhr vor sich hin pocht wie ein Riesenherz …

Ich geriet ins Sinnieren. Käme nicht alles darauf an, dieses Riesenherz zu pflegen und erhalten, ja täglich zu bewachen, als ob Wohl und Wehe der ganzen Welt davon abhingen?!

Ein Rucken, Schnarren und Klirren weckte mich aus meinen Tagträumen. Erschreckt sah ich auf meiner Armbanduhr den Zeiger kurz vor der Zwölf und stolperte mehr als dass ich ging eilig die Stufen hinunter Richtung Ausgang –

    Die Märchen im Kopf
    vom Land, in dem man nicht stirbt
    und Gevatter Tod,
    der überlistet wurde –
    Dumpf mahnt mich der Glockenschlag!

– Conrad Miesen

Yaegakihime *

    erst wenn
    es dunkel wird
    zeigt sie sich
    die wahre Schönheit
    des Goldbrokats

Sie steht erstarrt, ihr Gesicht ausdruckslos; ihr linker Arm hält den Helm empor, ihre Rechte berührt kaum dessen Kordeln. Das Weiß ihres Gesichts ist makellos, anmutig die schlanke Linie ihres Halses, ihre Kopfhaltung reizend. Gekleidet in rotem Goldbrokat verharrt sie wie eingefroren, so lange die Sonne auf ihren Ärmeln nicht untergegangen ist. Warte und die Dunkelheit wird sie einhüllen. Zünde eine Kerze an und — ist das ein Hauch von Weihrauch? — ihr Gesicht wird vor Entschlossenheit erröten, während sie den Helm um ein wenig höher hebt.

Jetzt ist sie keine Puppe mehr; sie ist eine Frau und verliebt. Und ihr Gesicht, sie erblickt es im Spiegel des zugefrorenen Suwa Sees zu ihren Füßen, aus dem sie ein Fuchs anschaut, während sie ihre magische Last hebt und rennt, fliegt.

    sie hat sich bewegt
    nicht wahr, sie hat sich bewegt
    ein klein wenig nur 
    oder war es, dass ihre Augen
    die Finsternis tranken 

– Ingrid Kunschke


* Yaegakihime ist eine Rolle aus dem Stück Honchō Nijūshikō von Chikamatsu Hanji (17251783) und anderen. Ursprünglich für das Bunraku-Puppenspiel verfasst, wurde es später auch auf der Kabuki-Bühne aufgeführt.

Erstveröffentlichung in Haibun Today, September 2014. Übersetzung aus dem Englischen: Ingrid Kunschke

Zeitgrenzen

Die volle Fahrt wird auf offener Strecke hart abgebremst, bis schließlich der Zug still steht.  Eine blecherne Stimme fordert auf, den Zug unverzüglich zu verlassen, "... Zzzu... end...et h...ier weg...n ...s Pers...scha...s auf ...en Schie...n", stottert und zischt der Lautsprecher, "ein Bussschwird...aldmöglischschsts bereitgessst...ellt."
Lange warten die paar Fahrgäste, kaum auszumachende Silhouetten auf dem Vorplatz eines Schuppens, leicht abseits von den Schienen, und starren müde in die Finsternis.

    Von Wolken und Wind
    etwas Sicht freigegeben
    auf kalte Sterne
    in der nächtlichen Weite
    das Drängen des Martinshorns.

– Beate Conrad

Kyoto-Tanka: Lyrik und Fotografie aus Japan

Müller, Igor (Autor); Lerch, Klaus (Einleitung); Akiyama, Reruhi (Fotograf)


Broschiert: 92 Seiten
Verlag: Hibarios Verlag; Auflage: 1 (August 2014)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 
3945058066 
ISBN-13: 
978-3945058060 
Größe: 21,1 cm × 15,1 cm × 1 cm

Es wird zeitiger dunkel, die Temperaturen sinken und der Winter ist auch nicht mehr fern. Also was tun an einem verregneten Herbsttag? Bereiten Sie sich am besten eine Schale Grünen Tee zu, ziehen Sie sich für eine Weile aus dem Alltagsleben zurück und folgen Sie Igor Müller und Reruhi Akiyama auf einen Tanka-Streifzug durch Kyoto.
Obwohl mittlerweile auch im Westen bekannt und verbreitet, ist die Mehrzahl der Bücher um und über diese älteste noch im Gebrauch befindliche Gedichtform der Welt dem Leser nur in englischer Sprache zugänglich. Dass hierzulande ein neuer Band mit deutschen Tanka-Übertragungen erscheint, ist daher alles andere als gewöhnlich, auch aufgrund des überschaubaren Leserkreises.
Der Hibarios Verlag, ein junger Kleinverlag, der auf Bücher über Japan spezialisiert ist, hat sich nun mit dem Band Kyoto‑Tanka an ein solches Projekt gewagt. Alle aber, die nun eine neue Anthologie erwartet hätten, wie sie etwa von Jan Ulenbrooks Tanka - Japanische Fünfzeiler bekannt ist, werden überrascht sein, nicht das zu bekommen womit sie gerechnet haben. Kyoto‑Tanka verfolgt nicht das Konzept einer epochen- oder themenbezogenen Sammlung, sondern versucht mit einer lyrischen Bilderreise durch Kyoto einen direkten, meditativen Zugang zum Leser herzustellen.
Die in dem vorliegenden Band enthaltenen dreißig Tanka-Übertragungen bekannter und weniger bekannter japanischer Dichter von Igor Müller sind meist in 5/7/5/7/7-Form gehalten und bieten ein thematisch und zeitlich breites Spektrum, das vom klassischen Waka des 7. Jahrhunderts
 
    Draußen im Garten
    fallen Pflaumenblüten,
    oder ist es Schnee,
    der leise herniederschwebt
    aus diesem fernen Himmel.
                      - Otomo no Tabito
 
bis hin zum Tanka im 20. Jahrhundert reicht:
 
    Oh, mein schwarzes Haar,
    so glatt gekämmte Strähnen.
    Ganz wirr bist du sonst,
    verdreht und kraus und wild,
    wie meine jungen Gedanken.
                      - Akiko Yosano
 
Die Verse, die vom Wandel der Natur in den Jahreszeiten, Sehnsucht nach Liebe und Glück, religiösen Empfindungen, Einsamkeit und der Vergänglichkeit aller Dinge berichten, zeigen die ganze Feinsinnigkeit der japanischen Seele auf.
Die ganzseitigen Fotografien von Reruhi Akiyama greifen die Motive der Gedichte auf und liefern einen zusätzlichen visuellen Anreiz, sich von den Versen zum Nachdenken inspirieren zu lassen. Die Fotografien entstanden im Frühjahr 2014 in Kyoto. Reruhi Akiyama zeigt in seinen Bildern nicht die Panoramen bekannter Gebäude und Gärten, wie man sie in den gängigen Bildbänden und Reiseführern findet. Abgebildet sind vielmehr – entsprechend dem japanischen Empfinden für Ästhetik – stimmungsvolle Details, die Einfachheit und Natürlichkeit symbolisieren und dem Betrachter den besonderen Zauber der alten Kaiserstadt vermitteln.
Der Band enthält darüber hinaus ein Kapitel mit Erläuterungen zu den Fotomotiven und biographischen Informationen zu den Verfassern der Originalgedichte sowie eine kurze Einleitung zum Tanka, die dem Leser auch ohne Vorkenntnisse das einfache Verständnis ermöglicht. Kyoto‑Tanka richtet sich in erster Linie nicht an den akademisch interessieren Leser, sondern all jene, die sich der Faszination für das alte Japan nicht entziehen können, gern eine Auszeit vom Alltag nehmen möchten oder ihre Begeisterung für das Tanka mit Freunden und Familie teilen wollen.

– Tony Böhle

nächste Ausgabe

Die nächste Ausgabe von Einunddreißig erscheint am 01. Februar 2015. Der Einsendeschluss ist der 01. Januar 2015.

(C) 2021
Alle Rechte bei Tony Böhle und den Autoren.
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