Ausgabe Februar 2016 - Einunddreißig

Einunddreißig
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Ausgabe Nr. 12 Februar 2016

Editorial

Wieder hat ein neues Jahr begonnen. Die einen mögen es mit Hoffnung und Zuversicht erwartet haben, angesichts der Möglichkeiten, die es ihnen bieten könnte. Die anderen werden es mit einer gewissen Skepsis betrachten, auch wegen der Ereignisse des vergangenen Jahres. Zu welcher der beiden Gruppen man sich selbst zählen mag, hängt wohl vom eigenen Naturell ab.
Doch ganz unabhängig davon sollten wir unseren Blick bei dieser Gelegenheit einmal in die Vergangenheit schweifen lassen, und zwar genau 2015 Jahre zurück. Damals, im Jahr 1, als nach biblischer Überlieferung in der Stadt Bethlehem Jesus von Nazareth geboren wurde. Auch für all diejenigen, die sich nicht mit dem religiösen Ursprung dieser Zählung anfreunden möchten, wird die faktische Bedeutung des zugrundliegenden Ereignisses für den Fortlauf des religiösen, kulturellen und politischen Lebens  für das Europa der nächsten Jahrhunderte  wohl kaum bestreitbar sein, so dass dieser Zählung zumindest eine gewisse Begründung innewohnt. Auch wenn unsere Zeitzählung – und es sei hier betont, dass es eben nur unsere Zeitzählung bleibt – uns heute selbstverständlich erscheint, war sie nie die einzige und ist es auch heute nicht. Blicken wir etwa in den arabischen Raum, beginnt die Jahreszählung dort mit der Hidschra, etwa in unserem Jahr 622 und der jüdische Kalender nimmt sich den Schöpfungsakt als Ausgangspunkt. Im französischen Revolutionskalender war es der Ausbruch der Revolution im Jahr 1789 und bis heute – zumindest noch offiziell  – ist es in Japan der Regierungsantritt des herrschenden Kaisers, nach dem sich das gegenwärtige Datum berechnet.
Doch bleibt allen Kalenderfixpunkten – ob sie sich durchsetzen konnten oder nicht  eines gemein: sie beziehen sich auf Ereignisse, die für die jeweilige Gesellschaft von fundamentaler Bedeutung sind. Aber was wäre, wenn jeder einzelne von uns die Möglichkeit hätte, den Fixpunkt seiner ganz eigenen Zeitrechnung zu wählen. Welches Ereignis wäre das wohl? Auch das Jahr 1 u.Z., wie es schon viele andere vor uns für angebracht hielten oder vielleicht auch das Jahr der eigenen Geburt oder ein anderes wegweisendes Ereignisse im eigenen Leben? Die Antworten darauf würden wohl sehr unterschiedlich ausfallen. Doch beginnt man (ohne eine Wertung über die Bedeutung des Ereignisses zu treffen) am 01. Mai 2013 zu zählen, befinden wir uns nun im Jahre 3 des Magazins Einunddreißig. Auch wenn sich diese Zeitrechnung niemals durchsetzen wird, hoffe ich doch darauf, dass sie nicht so bald endet und lade alle Interessierten herzlich zur neuesten Ausgabe von Einunddreißig ein, die jetzt zum Lesen bereit steht.

– Tony Böhle

Redaktionsmitarbeiter gesucht

Seit die erste Ausgabe von Einunddreißig online erschienen ist, sind mittlerweile mehr als drei Jahre vergangen. In dieser Zeit konnte das Magazin dank seiner Leserinnen und Leser sowie ihrer zahlreichen Beiträge beständig wachsen und hat seinen festen Platz gefunden. Dafür möchte ich mich herzlich bei allen bedanken, die zu dieser Entwicklung beigetragen haben und es auch in Zukunft werden.
 
Bislang habe ich Arbeit am Magazin allein bestritten. Mit in Zahl und Umfang steigenden Einsendungen als auch durch die Erweiterung der eigenen Artikel mit internationalen Autorenvorstellungen hat der Arbeitsaufwand nun eine Stufe erreicht, der allein nur noch schwer zu bewältigen ist.
 
Um das Magazin auch weiterhin mit angemessener Qualität und einem wachsenden Angebot an Beiträgen herausgeben zu können, suche ich Mitarbeiter für die Redaktion, die bei der Organisation, der Auswahl und dem Erstellen von Beiträgen, der Seitengestaltung sowie dem Lektorat von Einunddreißig mitwirken und eigene Ideen einbringen möchten.

– Tony Böhle

Tanka-Auswahl Februar 2016

Aus den Einsendungen, die zwischen dem 02. Oktober 2015 und dem 01. Dezember 2015 eingereicht wurden, habe ich für die Februar-Ausgabe von Einunddreißig eine Auswahl von 29 Tanka getroffen und zwei meiner eigenen Texte beigestellt. Jeder Teilnehmer konnte bis zu zehn Tanka einreichen, von denen maximal fünf in die Auswahl aufgenommen werden. Die ausgewählten Texte stehen nachfolgend alphabetisch nach den Autorennamen aufgelistet. Ein Tanka, das mich besonders anspricht habe ich hervorgehoben und kommentiert.

Ein Tanka, das mich besonders anspricht

flüssiges Wasser
morgens in meinem Gesicht
wie früher mal auf dem Mars
nicht nur in meinen Träumen
lebt Terra incognita
                 – Dietmar Tauchner

Unter den Planeten unseres Sonnensystems ist der Mars sicherlich derjenige, der unsere Fantasie am meisten beflügelt. Dies mag nicht zuletzt daran liegen, dass er aufgrund seiner roten Färbung unter den Wandelsternen am nächtlichen Himmel eine Sonderrolle einnimmt. In den letzten Jahrzehnten sind zahlreiche wissenschaftliche Missionen zu unserem Nachbarn gestartet worden. Heute gilt er einigen Wissenschaftlern als kleiner Bruder der Erde und ein Blick in die Zukunft unseres Planeten: kalt, trocken und unbewohnbar für Menschen. Doch wie mag es vor ein paar Milliarden Jahren auf dem Mars ausgesehen haben? Flüsse und Ozeane gab es wohl, vermutlich auch eine dichtere Atmosphäre und höhere Temperaturen; darüber sind sich die Wissenschaftler einig. Liegt da nicht auch die Existenz von Leben nahe? Gedanken dieser Art könnten es sein, die dem Lyrischen Ich bei seiner Morgentoilette durch den Kopf schießen, – und das nicht zufällig.
Während das Lyrische Ich sein Gesicht betrachtet, zieht es dabei zugleich einen erstaunlichen Vergleich zur MarsoberflächeSo wie einst der Mars mit flüssigem Wasser bedeckt war, so ist es gerade das eigene Gesicht. Vielleicht erscheint es nach dem Kontakt mit dem heißen Wasser sogar genauso rot. Überzeugend ist an dieser Stelle auch die sprachliche Umsetzung. In Segment a ist ausdrücklich die Rede von flüssigem Wasser, eine Formulierung, die manchem redundant erscheinen mag, aber angesichts der kosmologisch-wissenschaftlichen Perspektive nicht treffender formuliert sein könnte. Wasser in seiner flüssigen Form als Voraussetzung für Leben ist auf der Erde wohl eine alltägliche Sache, doch in unserem Sonnensystem eine Seltenheit.
Gleichzeitig eröffnet der Vergleich zwischen Marsoberfläche und der eigenen Haut auch einen Blick in die mikroskopische Welt. "Wie früher mal" Lebewesen auf dem Mars existiert haben könnten, gibt es sie mit Sicherheit auf jedem Quadratzentimeter menschlicher Haut in Form von Mikroorganismen. Für diese Mirkoorganismen bildet unsere Haut eine Form der Biosphäre, ähnlich wie die Erde eine für uns darstellt.  So wie der Mars für uns immer ein unbekanntes Land, eine "Terra incognita" im makroskopischen Maßstab bleiben wird, – zumal Milliarden Jahre in der Vergangenheit, die hier lapidar als "früher" bezeichnet werden – ist es im mikroskopischen Maßstab auf unserer Haut auch die Welt der Pilze, Bakterien und Viren, die sich uns in ihrer Winzigkeit praktisch entzieht. Während mögliches Leben auf dem Mars (früher oder jetzt) mehr "Traum" als Gewissheit bleibt, ist die "Terra incognita" auf dem eigenen Gesicht Realität. Unterstützt wird diese Tatsache durch die eindrückliche Gestaltung mit m- und t-Lautwiederholungen ("morgens", "mein", "mal", "Mars" und "Träume", "Terra incognita").
Dietmar Tauchner gelingt mit seinem Tanka nicht weniger als das Fantastische: eine Reise vom großen ins kleine, die die Frage stellt nach dem eigenen Selbstverständnis als Planet Mensch und seinem Verhältnis zur Welt, in der er lebt. Ein Tanka, wie man es nur selten findet und das in Erinnerung bleiben wird.

Die Auswahl

spuren im schnee
auf dem weg den wir gingen
– gestern noch –
heute fällt mir dein name
nicht mehr ein

                 – Sylvia Bacher

die ganze Welt
zum Teufel jagen
gerade heute
wo die Sonne so hell scheint
in die dunkelsten Ecken

                 – Silvia Kempen

Herbstfarben
wieder leistet sich die Natur
Extravaganzen
so greif' auch ich verwegen
zum Kajal "Urban Jungle"

                 – Valeria Barouch

als würden wir uns
mit jedem Jahr das vergeht
besser verstehen –
der Engel aus Pappmaché
mit den üppigen Brüsten

                 – Eva Limbach

Dem Namen nach
stammen sie aus dem Oberdorf
sagt die alte Dame
früher war ihre Welt noch
übersichtlich geordnet

                 – Valeria Barouch

Auf dem Wochenmarkt
handgefertigte Kerzen
mit Kaffeebohnen
... Oma hat's geliebt
von der Untertasse zu schlürfen

                 – Ramona Linke

Ein Papierdrache
verschmilzt mit des Himmels Blau,
taucht bald darauf auf
zwischen Wolkengebilden,
wie ein hellblauer Engel.

                 – Ingrid Baumgart-Fütterer

Auf dem Jakobs-Weg
hat sich ein Pilger verirrt…
Krümpelbeck-Krähen
schwingend im Weidengeäst –
Ein hämisches Crescendo.

                 – Conrad Miesen

Im Schneckentempo
bewege ich mich vorwärts,
es verlangsamt sich
mein Denken, bis es stillsteht,
mein Herz zu sprechen beginnt.

                 – Ingrid Baumgart-Fütterer

jetzt liest du Zeitung
wie dein Vater
als ich ihn kennenlernte
war er Ende Fünfzig und
wir fanden ihn spießig 

                 – Eleonore Nickolay

Neujahrsmorgen
in der ersten Straßenbahn
Fahrgäste
mit den Hüten
des alten Jahres

                 – Christa Beau

ich räume deine
Pantoffeln weg
du meine Kaffeetassen
und unsere Söhne
lassen sich scheiden?

                 – Eleonore Nickolay

Melonen
zu kaufen im Supermarkt
an der Ecke,
mitten im Februar
fühlt es sich an wie Verrat

                 – Tony Böhle

Im Wartehäuschen.
Unterschiedliche Menschen
mit demselben Ziel,
ganz eigenem Anschlußplan
und der Zeit, die einem bleibt.

                 – Wolfgang Rödig

Einunddreißig,
verheiratet, Golf-Fahrer –
das Wort
Establishment ist
von nun an konkret
                 – Tony Böhle

Der Taxifahrer,
Blicke in den Rückspiegel,
knapp und routiniert,
sich langsam ein Bild machend
von dem schweigsamen Fahrgast.

                 – Wolfgang Rödig

Der lange Gang
das starre Warten
das weiße Licht
als fiele
kalter Schnee in den Herbst

                 – Reiner Bonack

Mit lautem Rauschen
füllen sich die Tanks
in meinem Keller
Wärme für die… Winterzeit
in den Zeltstädten am Stadtrand

                 – Angelica Seithe

Bereiftes
weißes Gras –
wo auf der Welt
überwintert
das Summen der Wiese

                 – Reiner Bonack

in diesem mutterlosen
Augenblick
ist das Gedicht
eine Hand im Dunklen
ohne Mensch

                 – Angelica Seithe

Die taubstumme Landschaft –
ausgekohlt, Abraum
über der Kindheit…
Der Schatten der Krähe
landet nicht

                 – Reiner Bonack

noch einmal
die blassen Fotos
betrachtend:
Kann ich dich wiederfinden
so wie ich dich kannte?

                 – Helga Stania

die letzten Stufen
schier unüberwindbar - - -
jeden Tag
aufs Neue fragt sie mich
wer ich denn sei

                 – Claudia Brefeld

flüssiges Wasser
morgens in meinem Gesicht
wie früher mal auf dem Mars
nicht nur in meinen Träumen
lebt Terra incognita

                 – Dietmar Tauchner

Mit tausend Nadeln,
mal aus Feuer, mal aus Eis,
durchstichelt es mich,
dieses Himmelsangesicht,
vergangengeglaubter Zeit.

                 – Beate Conrad

Teppich aus Herbstlaub
der König der ich bin
in meinen Tagträumen
schreitet in den Winter
weißer Nächte am Kamin

                 – Dietmar Tauchner

Speed-Dating
heut' vom Himmel nur
das blaue
ihr Online-Profil
sein Offline-Leben.

                 – Beate Conrad

Februar 1944
der Stempel
auf Vaters Geburtsurkunde
versehen
mit einem Hakenkreuz

                 – Dietmar Tauchner

Nach so langen Zeiten
   ist eine Mail gekommen
   von einem Schulfreund.
Mir vielleicht zu heiter
   beim Warten auf Nachbeben.

                 – Haruhiko Ichinomura

manchmal
den Kopf voll mit Gedanken
wenn alle schlafen
fließen die Stunden
wie Zuckerrübensirup

                 – Silvia Kempen

Näbudechi
d'Lüt mit ere Mouggere
aber scho gly
zouberet d'Sunne
es Lächle uf d'Gsichter

Nebeldecke
die Leute mit grimmiger Miene
aber schon bald
zaubert die Sonne
ein Lächeln auf die Gesichter
                 – Ruth Zuckschwerdt

Das Tanka international Teil III - M. Kei

M. Kei zählt zu den bekanntesten englischsprachigen Tanka-Autoren der Gegenwart. Neben dem Schreiben gilt seine Begeisterung dem Segeln, das immer wieder Anklänge seinen Texten findet. Dabei ist M. Kei nicht nur ein überaus produktiver Autor, sondern auch vielseitig aktiv. Neben seinen Tanka, für die er bislang zahlreiche Preise gewonnen hat, sind auch Abenteuernovellen wie Pirates of the Narrow Seas (blogspot.narrowseas.com) entstanden. Sein zuletzt erschienenes Buch January, A Tanka Diary hat ein breites, positives Echo gefunden.
Daneben hat sich M. Kei auch als Herausgeber der Zeitschrift Atlas Poetica: A Journal of World Tanka (AtlasPoetica.org) um die Verbreitung und Entwicklung des Tanka verdient gemacht und war als Chefredakteur an der Entstehung der Tanka-Sammlungen Take Five: Best Contemporary Tanka, Vols. 1–4, und Bright Stars, An Organic Tanka Anthology beteilgt. Heute lebt er in den Verneigten Staaten an der Ostküste von Maryland. Über Twitter kann man ihm unter @kujakupoet folgen.
– Tony Böhle

Diet Barq's Rootbeer 
she is particular
about these things,
my daughter who is now
the woman of the house

Barq's Rootbeer* Diät –
sie ist eigen
in diesen Dingen,
meine Tochter, die nun
die Dame des Hauses ist

Limonade aus Kräuter- bzw. Wurzelextrakten

in the mud
next to the asphalt,
a broken doll's head,
a crow pecking
at plastic eyes

im Schlamm
neben dem Asphalt
der Kopf einer kaputten Puppe,
eine Krähe pickt
an Plastikaugen

in a room
with no wind,
a flickering candle
   is that you
   mother?

in einem Zimmer
ohne Luftzug
eine flackernde Kerze
   bist du das
   Mutter?

thirty-five years
since the dust of Texas
staind my boots,
I wonder if I can
find the family graves

fünfunddreißig Jahre
seit der Staub von Texas
meine Stiefel bedeckte,
ich frage mich, ob ich sie noch
finden kann, die Familiengräber

waking
the same time
as always,
this first day of
beeing unemployed
aufgewacht
um die selbe Zeit
wie immer,
an diesem ersten Tag
in Arbeitslosigkeit

outside,
the birds chatter
about things
that matter
to brids

draußen
schwatzen die Vögel
über Dinge
die wichtig sind
für Vögel

needing
to shave with
my glasses on,
this too is
middle age

zum Rasieren
brauche ich
meine Brille,
auch so ist
das mittlere Lebensalter

what is the name
for that exact shade
of gray
hanging over my head
this morning?

welchen Namen trägt
diese bestimmte Schattierung
von Grau,
die über meinem Kopf hängt
am diesem Morgen

I didn't like my job,
but I miss
having it 
these empty days
of withered leaves

meine Job mochte ich nicht,
doch vermisse ich
ihn zu haben –
diese leeren Tage
dahingegangener Blätter

empty
but sill attached,
two clamshells
something like
a husband and wife

leer
doch immer noch verbunden,
zwei Muschelschalen
etwas wie
ein Ehepaar

Ausgewählt mit freundlicher Genehmigung des Autors aus: M. Kei, January: A Tanka Diary, Keibooks, Perryville, Maryland, USA 2013.

Übersetzung: Tony Böhle.

Mitgift

Ich bin jetzt fast achtzig, aber mich erstaunt immer wieder, wie mir lebhaft und klar noch so vieles in den Sinn kommt, was ich manchmal sogar als ganz kleines Kind mal mitmachte, woran ich aber Jahrzehnte nicht gedacht hatte.
 
    Die weiße Rose
    vor einem wichtigen Grab,
    das ich ihr ernst zeige.
    Das Töchterchen ist wohl noch
    zu jung, das auch zu verstehn.

– Horst Ludwig

"Nit möööglich!"

    Nur Location-Scouts
    das Rollkofferkommando
    aus den USA.
    Doch dann drehen sie gleich ab 
    Gezeitenriß Europa

Theoretisch und auch tatsächlich umkreist der Mond Europa den riesigen Planeten Jupiter mit seinen Magnetfeldern. Der Mond auf seiner elliptischen Bahn, ist ihm mal nahe und mal fern. Aber unter Jupiters anziehendem Einfluß entstehen immer wieder Risse auf der Mondoberfläche, die Risse der Gezeiten. Doch ein Tag auf Europa ist etwa dreieinhalbmal so lang wie ein Tag auf der Erde. Genügend Zeit, so glauben manche Menschen, solch einem Gezeitenriß in seiner Tiefe nachzugehen.

    Nimm diesen Kochtopf
    hier dann einen Schlag:
    Sieh, ein Wellenring,
    und wie er sich ausbreitet,
    ein Stern im Universum.

– Beate Conrad

Plötzlicher Umzug

Anfangs war es kaum jemand aufgefallen. Unsere Nachbarin, Frau T., eine pensionierte Lehrerin, und ihr Mann, ein Philologe, der sein Studierzimmer kaum noch verließ, bekamen selten Besuch und hatten kaum Verwandte und Freunde.

So bemerkte keiner, wie sich dort die Lebensmittelvorräte in der Speisekammer des kleinen Hauses türmten und wie übel das Essen in den Töpfen auf dem Herd roch.  Seltsam allerdings, dass sich Frau T. regelmäßig telefonisch bei ihrer unmittelbaren Nachbarin beschwerte, diese hätte ihr das Fahrrad aus dem verschlossenen Schuppen gestohlen.

Dann eines mittags die Peripetie: ein Rettungswagen vor dem Haus. Herr T. war bewusstlos und wurde abtransportiert zum Krankenhaus. Frau T. aber irrte wenige Tage danach orientierungslos im Wohnviertel umher, bis sie jemand aufgriff und zur Haustür zurückbrachte.

Vier Wochen später erneut ein großes Aufgebot vor dem bewussten Haus.
Mehrere Fahrzeuge, die Amtsärztin, ein Richter, eine Sachbearbeiterin vom Gesundheitsamt und die Fahrer des Krankenwagens.
Man bat Frau T., mitzukommen und führte sie zum Wagen auf dem Vorplatz. 

Besucher in ihrem neuen Quartier waren noch seltener als zuvor.

    Ein Raum, in dem man
    keinen Gürtel tragen darf –
    sagt uns der Pfleger.
    Auf dem Couchtisch die Zeitung
    ist schon drei Monate alt…

– Conrad Miesen

Rauhe Nächte

und dabei gab es auch ganz besondere Tage, sogenannte Verwandlungstage. So ließe sich am achtunzwanzigsten Dezember, dem Tag des Kindes, wieder einiges richten und gutmachen, was zuvor aus dem Ruder lief. Dabei war es wichtig, sich alles ganz genau vorzustellen, und dann in weißes Licht zu tauchen, oder auch in violettes, und es verwandeln zu lassen. Das ließe sich am Ende, also am fünften Januar, dem Hohen-Frauen-Tag, sogar wiederholen. Ein Zeitraum, der deshalb vorsichtig und möglichst wachsam zu begehen wäre, da er mindestens das ganze kommende Jahr in sich bergen würde und verantwortlich die Weichen gestellt werden müßten.

    Traum  und wär's auch nur
    ein lautloser Zwischenfall
    zwischen den Sternen
    entblößt ein gähnendes Loch
    im Raumzeitkontinuum

würde wohl überprüft, ob wichtige zusätzliche physiologische Funktionen ersetzt werden müßten. Dazu flackerte dann ein violettes Lämpchen auf. Ein helles Lämpchen signalisierte wiederum den Verfall sämtlicher Funktionen, also wenn ein Klient erloschen wäre. In diesem Fall würde sofort ein Transfer in die Tiefkühleinheit eingeleitet, wo fortan die Klienten auf den Tag warteten, an dem fortgeschrittene Technologie sie entfrostete und wiederbelebte,  so wie sie auch darüber entschiede, wer welche verfügbaren Ersatzorgane erhielte und wer nicht, und ob die Witwe eines tiefgefrorenen Klienten Rente oder andere Sozialleistungen bezöge, oder ob sie sich wieder verheiraten dürfte und...

    Mµkrochips wie selbst-
    replizierende Viren,
    vorsichtig sammeln
    sie Daten über meine
    zunehmenden Kopfschmerzen.

– Beate Conrad

Gedanken zu Kultur und Klang in einem deutschen Tanka

Dieses Tanka ist mir als Weihnachtsgruß von Horst Ludwig zugegangen:

    Adventerwarten
    gesegnet und Weihnachten
    heilender Frohsinn,
    und werde allen das Wort
    Lichtwerfer für die Füße

Ein Tanka, das wohl zunächst auf einigen Widerstand bei manchem Auswähler/Herausgeber mit seiner Weltsicht stieße. Die Gründe dafür mögen vielleicht an der religiösen Stimmung, an den mächtigen Worten und am predigthaften Stil liegen; andererseits besteht gerade darin ein gewisser Reiz. Tanka im Japanischen sind für manches offen, so wie auch der Gruß in Tankaform in japanischer Tradition steht.

Betrachten wir den Text etwas genauer: Dieses Weihnachtsgrußtanka bringt alt- und neutestamentarisch belegte Kultur zur Sprache.  Die Rede ist im ersten Teil (Segmente a-c) vom Warten auf eine Ankunft, auf einen gesegneten Ausblick: nämlich die Ankunft einer besonderen Nacht.  Obgleich die Nacht erst einmal mit Dunkelwerden und Dunkelheit assoziiert ist, verbreitet diese besondere Nacht Frohsinn. D. h., sie verleiht nicht nur Freude, sondern auch Sinn. Etwas, das zuvor anscheinend abhandengekommen ist und vermißt wird, und somit dann auch heilend wirkt.  Diese innere Erwartungsbewegung finden wir in den sich deutlich wiederholenden Klangwerten der [w]-Stabreime, s-Geräuschkonsonanten und in der wei-hei-Assonanz wieder. Das Tanka verweist zudem stilistisch auf eine Verkündigung, nämlich die der überlieferten frohen Weihnachtsbotschaft.

Der zweite Teil des Tankas wirkt mehrfach erhellend: indem er explizit Licht in diese sich zunächst vertiefende Nacht wirft.  Auf Licht hoffen, nach Licht sehnen sich Menschen in einer dunklen (Jahres)Zeit.  Vor allem aber erweitern die Segmente d und e den Blick der Gegenwart von der Vergangenheit in eine hellere Zukunft hinein in der Form eines imperativen Wunsches: werde!  Auch die klangliche Gestaltung intensiviert sich mit gehäuftem [w]-Stabreim, dem a- und f-Stabreim mit fast durchlaufenden er- und en-Lauten zu einem ausgewogenen Klang. Wobei zum Ende hin die f-Konsonanten stärker werden, die Vokale heller bleiben und der Frohsinn mit im offenen scharfen Schlußakzent "-ße" schwingt und singt: Das Wort, die frohe Botschaft, werfe, einer Lampe gleich, Licht auf den Weg, den wir gehen.  Dabei verleiht gerade die Beständigkeit dieses Lichts zunehmende Sicht und damit Einsicht und Erkenntnis auf dem Lebensweg.

Dazu nehmen auch die Segmente d und e mit ihrer klanglichen Gestaltung und inhaltlich Bezug auf ein amerikanisches Kirchenlied "May the word be a lamp for your feet", und das wiederum verweist auf den Psalm 119:105. Dieser, in modernerer Sprache wiedergegeben, bedeutet: Dein Wort leuchtet mir dort, wo ich gehe; es ist ein Licht auf meinem Weg. Aber im Tankatext haben wir mit "werde/werfe/leuchte" den Konjunktiv I, 
 und der drückt ja sowohl den Wunsch aus als auch bloß, daß wer beobachtet und indirekt zitiert,  hier, wie man sieht, einer, der sich mit Texten gut auskennt, sie ernst betrachtet und davon berichtet.  Die Form des indirekten Zitats führt hier nämlich weniger an eine einfache religiöse Anschauung heran, sondern ermöglicht eher einen Zugang zu einer lang überlieferten, reichen Kultur und vergleicht mit der. Außerdem läßt sich das Tanka mit "steht auf, die Lampen nehmt [...], ihr müsset ihm entgegengehn!" aus dem Kirchenlied "Wachet auf, ruft uns die Stimme" assozieren.  Interessanterweise war es in der katholischen Liturgie lange ein Adventslied, für den Beginn eines neuen Kirchenjahres, hingegen in der protestantischen Liturgie eins zum Ewigkeitssonntag, also zum Abschluß eines Kirchenjahres. Ganz generell steht das Lied eschatologisch für die letzten Dinge und für "die ewige, die himmlische Stadt".  So klingt Heil und Geschichte, "die Fülle der Zeiten" (Gal. 4,4; Eph. 1,10) an und verbindet sich zu besonderer Zeitsicht von Anfang, Ende und Ewigkeit.

Diese vielschichtigen Zeit- und Kulturebenen sind im vorliegenden Tanka sprachlich wirksam angezeigt und erweitern somit menschliches Zeitverständnis.

– Beate Conrad

nächste Ausgabe

Die nächste Ausgabe von Einunddreißig erscheint am 01. Mai 2016. Der Einsendeschluss ist der 01. April 2016. Für die Einsendung von Beiträgen bitte ich die Teilnahmebedingungen zu beachten.

(C) 2021
Alle Rechte bei Tony Böhle und den Autoren.
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