Ausgabe Mai 2018 - Einunddreißig

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Ausgabe Nr. 21 Mai 2018

Tanka-Bilder / Foto-Tanka

Tanka-Prosastücke

Tanka-Sequenzen

Mitteilungen

Tony Böhle

Editorial

Na, wann haben Sie zum letzten Mal einen Brief geschrieben? Ich meine nicht an einer Briefwahl teilgenommen, einen Behördenbrief verschickt oder eine Geburtstagskarte versendet – nein, einen richtigen Brief. Am besten noch mit der Hand geschrieben. Die meisten werden da wohl schon etwas weiter zurück denken müssen. Das musste ich übrigens auch. Der Anstoß für meine Frage war ein Artikel über die erste moderne Briefmarke vom 1. Mai 1840 in Großbritannien, den ich letzte Woche gelesen habe.
Doch welchen Wert sollen Briefe heute noch haben, in der Zeit von E-Mails und WhatsApp, abseits des unbedingt nötigen Schriftverkehrs mit Behörden und Versicherungen? Diese Art Kommunikation ist langsam, kostet Geld – wenn man überhaupt die passende Briefmarke zur Hand hat – und der Weg zum nächsten Briefkasten ist unter Umständen weit. Briefe waren lange Zeit die einzige erschwingliche Art der Kommunikation mit der Familie, Freunden und Gleichgestimmten in der Ferne. Man denke nur an die bedeutenden Briefwechsel zwischen Voltaire und Friedrich dem Großen, die Millionen Briefe, die während der beiden Weltkriege zwischen Front und Heimat ausgetauscht wurden oder zwischen Ost und West während der Mauerjahre.
Vielleicht ist es dem einen oder anderen schon einmal passiert, alte Briefe auf dem Dachboden zu finden und so einen intimen Einblick in ein fremdes Leben zu gewinnen. Was mögen es wohl für Dinge gewesen sein, die ihr Empfänger für Wert hielt, sie aufzubewahren. Geschäftliche Angelegenheiten,  Reiseberichte,  Kriegspost oder Liebesbriefe, die nie für andere Augen bestimmt waren und nun doch ihr Geheimnis preisgeben?
Auch im Japan der Heian-Zeit wurden heimliche Liebesbriefe ausgetauscht. Am Hof war es durchaus üblich und toleriert jenseits der Ehe Liebschaften und Affären zu unterhalten. So wurden unzählige Botschaften zwischen den Liebenden ausgetauscht, oft auch in Form eines Tanka. Auch diese gerieten irgendwann in die Hände anderer, bewegten die Herzen der Leser und wurden aufgrund ihrer unendlichen Schönheit zu Klassikern  der japanischen Literatur. So haben sie auch ihren Weg zu uns gefunden.
Was sich aus dieser ursprünglichen Gebrauchslyrik nach über 1.000 Jahren und einer Reise um die halbe Welt entwickelt hat, ist immer wieder aufregend. Auch wenn sich Gesellschaft, Sprache und Gepflogenheiten verändert haben, bleibt doch der ursprüngliche Anspruch des Tanka, mühelos Himmel, Erde und unsere Herzen zu bewegen, unangetastet. Dies zu erkunden, lade ich alle Leser herzlich zur neuesten Ausgabe von Einunddreißig ein.

Valeria Barouch

Das Tanka international Teil IX - Rafael García Bidó

Rafael García Bidó wurde 1953 in der Dominikanischen Republik geboren und lebt in Santo Domingo. Er ist von Beruf Elektroingenieur und hat ebenfalls ein Studium in vergleichender Literaturwissenschaft absolviert. Seit Jahrzehnten der Dichtkunst verschrieben, hat er mehrere Lyrikbände veröffentlicht. Er widmet sich auch seit geraumer Zeit den japanischen Formen: Haiku, Haibun und Tanka. Aus dieser Tätigkeit sind zwei Haiku-Antologien erschienen Huellas de unicornio (2010) und Verdor claro y oscuro (2011), sowie ein Tanka-Band En el farol del frente (2015), aus dem die hier vorgestellten Texte stammen.

Justo al momento
de acostarme, llovizna.
Las finas gotas
sólo se pueden ver
en el farol del frente.

Just im Moment
als ich zu Bett geh, Sprühregen.
Die feinen Tropfen
sind nur sichtbar im Schein
der Laterne gegenüber.

En algún sitio
cerca de nuestra casa
el grillo canta.
Sí chirría, molesta,
si calla, le extrañamos.

Irgendwo
unweit von unserem Haus
singt die Grille.
Wenn sie zirpt, stört sie,
schweigt sie, fehlt sie uns.

Bajo la luna
su mirar soñador
resplandeciendo.
En esta noche fresca,
¿qué pedirle al otoño?

Unter dem Mond
ihr verträumter Blick
strahlend.
In dieser kühlen Nacht,
Was mehr vom Herbst verlangen?

Ante la lluvia,
madre e hijo parados
en la ventana.
A cada uno el sonido
dice cosas distintas.

Beim Regen,
stehen Mutter und Sohn
vor dem Fenster.
Jedem erzählt das Geräusch
unterschiedliche Dinge.

Valle Encantado.*
Esencias del pinar
llenan mi vida
y este silencio vivo
como agua que no suena.

* Valle Encantado: Sector de la Cordillera Central ubicado en el Parque Juan B. Pérez Rancier,  próximo al pico Alto Bandera.

Das verzauberte Tal.*
Essenzen des Pinienwaldes
füllen mein Leben
und diese lebendige Stille
wie Wasser das nicht rauscht.

* Valle Encantado: Teil der Cordillera Central welche im Nationalpark Juan B. Pérez Rancier liegt, in der Nähe des Berges Alto Bandera.

Tiene el encanto
de tu pisar la calle
donde resides.
Y aires de primavera
cualquier día del año.

Sie hat den Zauber
deiner Schritte die Strasse
wo du wohnst.
Und die Anmut des Frühlings
an jedem Tag des Jahres.

Como la luz
de los días de fiesta
en la ventana,
así tu amor penetra
esta estancia tranquila.

Wie das Licht
der Feiertage
im Fenster,
so erfüllt deine Liebe
diesen ruhigen Raum.

Te esperaré
donde flota el silencio,
bajo la noche
llena de las estrellas
que quisimos contar.

Ich werd' auf dich warten
da wo die Stille schwebt
unter der Nacht
gefüllt mit den Sternen
die wir zählen wollten.

Cuando tu vida
se aleje de la mía,
recordaré
como pasa entre la hierba
la brisa del verano.

Wenn dein Leben
von dem meinen wegdrifted,
werd' ich mich erinnern
wie die Sommerbrise
durch das Gras streift.

Ya que te fuiste
el camino a tu casa
para qué sirve.
Acaso pase el viento,
tal vez la blanca luna.

Seit du gegangen bist
der Weg zu deinem Haus
wozu soll er nun gut sein.
Vielleicht sucht ihn der Wind auf,
oder gar der weiße Mond.

Übersetzt und veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Valeria Barouch & Tony Böhle

Tanka der Redaktionsmitglieder

Die Wasserfuhren
Wagemut und Blut haben sie
in den Berg geschlagen 
wie töricht ich mich fühle
mit meinem Schreibwerkzeug

                 – Valeria Barouch

dem reichen Mädchen
gleichst du in deinen Gesten,
dem Straßenjungen ich
mit meinem Blick – dieser Film,
wie soll er nur gut enden?

                 – Tony Böhle

Diesem Küstenbaum
fühle ich mich verbunden
die Wurzeln verankert
derweil windzerzaust
das Haupt nach der See strebt

                 – Valeria Barouch

an manchen Tagen
möcht ich ihm misstrauen,
diesem Gesicht im
Spiegel, wie es mich anschaut
mit seinen braunen Augen

                 – Tony Böhle

Valeria Barouch & Tony Böhle

Tanka-Auswahl Mai 2018

 
Aus den Einsendungen, die zwischen dem 1. Februar 2018 und dem 31. März 2018 eingereicht wurden, hat die Jury, bestehend aus Valeria Barouch und Tony Böhle, für die Mai-Ausgabe von Einunddreißig eine Auswahl von 28 Tanka getroffen. Jeder Teilnehmer konnte bis zu zehn Tanka einreichen. Die ausgewählten Texte stehen nachfolgend alphabetisch nach den Autorennamen aufgelistet. Die Jurymitglieder haben jeweils ein Tanka, das sie besonders angesprochen hat, hervorgehoben und kommentiert.

Valeria Barouch

Ein Tanka, das mich besonders anspricht

das Alter
erzählst du mir wieder
käme in Schüben...
vorsichtig dekantiere ich
den Wein von damals
                 – Eva Limbach

Das Alter kommt in Schüben. Mit diesem ersten Teil des Textes konnte ich mich leicht identifizieren. Ist nicht unser ganzes Leben von Schüben gekennzeichnet? Eltern blicken mit Ungeduld bei ihrem Kind jedem kleinsten entgegen: dem ersten Wort, dem ersten unsicheren Schritt, mit dem es sich die Welt erobert. Solange weder Krankheit noch Unfall Bremsen setzen, erleben wir diese Schübe als eine positive Antriebskraft, die uns die nächste Lebensetappe erreichen lässt. Doch nach Jahrzehnten wandeln sich diese Kräfte, erst unmerklich, bis wir eines Tages mit Rückschüben konfrontiert werden. Diese Erkenntnis kommt manchmal schockartig, darüber können auch so gerne zitierte Sprüche wie "Hauptsache das Herz ist jung geblieben" oder "man ist so alt wie man sich fühlt" nicht hinwegtäuschen. Ein klarer Text aus dem Leben gegriffen – doch konnte ich vorerst die Bindung zum Dekantieren nicht herstellen.
Als ausgemachte Dilettantin in Sachen Weingenuss, musste ich mir erst einmal einige Kenntnisse aneignen: um den bitteren Bodensatz zu isolieren, werden ältere Rotweine in schlanke Flaschen dekantiert; schlanke Gefäße verhindern, dass zuviel Sauerstoff den Wein ungenießbar macht. Junge Rotweine dagegen werden in bauchige Behälter karaffiert, wo sie atmen und ihr Bouquet entwickeln können.
Angereichert mit diesen Angaben, entfaltete nun auch der Text son volles Bouquet für mich. Ich las ihn auf zwei Ebenen. Wortgetreu auf der ersten: das Gespräch führt zum Öffnen einer guten Flasche Wein vielleicht im Bewusstsein, dass es an der Zeit ist, den kostbaren Tropfen gemeinsam zu genießen, anstatt noch immer auf die passende Gelegenheit zu warten. Man kann sich auch vorstellen, dass dieser Vorgang Zeit verschaffen soll um die richtigen Worte für das Gespräch zu finden, das offenbar nicht zum ersten Mal geführt wird, wie wir der zweiten Linie entnehmen können.
Dann sah ich auf der zweiten Ebene ein Dekantieren metaphorischer Art, das jedes Wort dieser beiden Segmente in eine reiche Palette von Gefühlen verwandelt: aus dem Wein von damals werden Erinnerungen, aus denen man das Bittere oder Missverständnisse heraussiebt um sie in der Flasche, d. h. in der Vergangenheit ruhen zu lassen. Ein komplexes Unternehmen, das Behutsamkeit voraussetzt, damit man gemeinsam diesen Lebensabschnitt genießen kann, ohne einen Tropfen oder Tag zu verlieren. Ein schöner, eleganter Text über ein tiefgreifendes Thema.

Tony Böhle

Ein Tanka, das mich besonders anspricht

endlich allein
ich stimme die Gitarre
nach Gehör
und spiele
ohne Metronom

                 – Frank Dietrich

Dieses Tanka hatte es mir diesmal besonders angetan, besonders weil es Erinnerungen an meine eigene Jugend geweckt hat. Es wird wohl auch eine große Resonanz bei denen finden, die – wie ich – in ihrer Kinder- und Jugendzeit mit mäßigem Erfolg ein Instrument erlernt haben. Bei mir war es das Klavier. Ich erinnere mich heute noch recht genau an den wöchentlichen Unterricht und die immer wiederkehrenden Worte meines Klavierlehrers: … "und immer genau mitzählen" … "nur den Fingersatz spielen, den wir aufgeschrieben haben" … "nicht nach unten auf die Tasten schauen, sondern auf die Noten" … Ja, der Unterricht an einem Instrument ist ein mühsames Geschäft, nicht nur für den Schüler, sondern auch für den Lehrer, dem es wohl selten leichter fällt als seinem Zögling.
Für diejenigen, die sich selbst dafür entschieden haben, ein Instrument zu erlernen, stand am Anfang meist ein konkretes Ziel. Vielleicht sein Lieblingsstück selbst spielen zu können, Mitglied in einer Band zu werden oder einem berühmten Musiker nachzueifern. Doch nach einigen Wochen und Monaten des Übens, lässt die Motivation dann oft nach, da der Weg zum Ziel doch länger und steiniger ist, als gedacht und die Unterrichtsstunden trocken.
Wie erleichternd kann es da sein, "endlich allein" zu sein und wieder einmal spielen zu dürfen wie man möchte. Ganz ohne Lehrer, der einem ein enges Korsett anlegt oder Zuhörer, die Erwartungen haben. Einmal frei und leicht vor sich dahin spielen. Ja, sicherlich, hier und da klingt die Melodie etwas schief ("ich stimme die Gitarre / nach Gehör"), es wird wohl auch nicht jeder Ton gleich beim ersten Versuch der richtige sein und aus dem Takt gerät man auch ("und spiele / ohne Metronom") – aber es macht endlich wieder einmal Spaß! Ja, man kann die Erleichterung und Genugtuung im Tanka beinahe mit den Fingern greifen.
Diese mögen sich aber nicht nur auf das Üben und Spielen selbst beziehen, sondern auf ein allgemeines Gefühl des nicht-perfekt-sein-Müssens. In der Berufswelt stellen sich heute hohe Erwartungen an den Einzelnen, auch was Termine und Zeitdruck angeht. Die Gitarre nach Gehör zu stimmen (also auch mal Fünfe grade sein lassen) und ohne Metronom spielen (sprich ohne durchgetakteten Zeitplan), sondern endlich einmal allein zu sein und etwas für sich selbst zu tun,  auch dies lässt Frank Dietrich hier gestalterisch sehr geschickt anklingen.

Valeria Barouch & Tony Böhle (Auswahl)

Die Tanka-Auswahl

Allein
der Staub wächst
auf den Blättern und der Haut
der Zimmerpflanzen
altert lange schon das Licht

                 – Reiner Bonack

in Sütterlinschrift
all die Briefe aus einem
unbekannten Krieg
noch einmal borge ich mir
die Brille meines Vaters

                 – Eva Limbach

Endlich Frühling
Die erste Fliege surrt
im Sommerhaus –
 
und auch die Spinne zeigt sich
hat den Winter überlebt

                 – Reiner Bonack

das Alter
erzählst du mir wieder
käme in Schüben...
vorsichtig dekantiere ich
den Wein von damals

                 – Eva Limbach

Ins Dunkle leuchten
Kerzen zur Demonstration
unserer letzten Lebensglut
kurz die Lichtinstallation
unterm Sternengewölbe

                 – Beate Conrad

Regen
rauschen tröpfeln prasseln
der Teekessel summt
Achtsam leg ich meinen Traum
zwischen die Buchseiten

                 – Ramona Linke

der Zirkus
bricht seine Zelte ab
und zieht weiter…
es fällt ein Vorhang
aus Regen

                 – Frank Dietrich

Einen Strauß
für die alte Nachbarin,
die nicht mehr heimkehrt…
Später kraule ich ihrer Katze
die Traurigkeit aus dem Fell.

                 – Ramona Linke

das Licht ferner Sterne
die schon lange
erloschen sind
die Vergangenheit
holt mich ein

                 – Frank Dietrich

Regen auf dem Dach
Unser Morsealphabet –
ich hab es verlernt!
Lange und kurze Silben
umkreisen dein Geheimnis…

                 – Conrad Miesen

endlich allein
ich stimme die Gitarre
nach Gehör
und spiele
ohne Metronom

                 – Frank Dietrich

Kreis meiner Freunde
unter den Verstorbenen
wird immer größer –
In alten Briefen les‘ ich,
beschwör das Leben herauf.

                 – Conrad Miesen

Zwiegestirn
am anderen Ende
der Nacht
die Augen
der sterbenden Katze

                 – Frank Dietrich

Nur noch ein Jawort!
Bis dass der Tod sie scheide,
die zwei Glücklichen!
Die Mutter des Bräutigams
ist Eheberaterin.

                 – Wolfgang Rödig

"… nur einen alten Freund
getroffen." Aber
die Geschichte
geht noch weiter
in deinen Augen

                 – Frank Dietrich

Ich bin es nicht!
Was, liebes Grau?
Nun bin ich es doch!
Was?
Grau... und lieb!

                 – Dyrk-Olaf Schreiber

Frau Sun
grüßt verstohlen
übern Zaun
wo merklich sich der Ast
des Kirschbaums hob

                 – Gabriele Hartmann

Frühlingsbeginn –
zwei alte Leute pflanzen
einen Apfelbaum
mit krummem Rücken
gießen sie die Grube an

                 – Angelica Seithe

Pflaumenblüten
eine löst sich... taumelt trunken
in meine Hand
nie zuvor verweilte ich
so lange an einem Ort

                 – Gabriele Hartmann

winterfrühe
fahrt zum bahnhof
meine hand
wärmt sich in deiner –
manteltasche

                 – Angelica Seithe

Ist es möglich,
dass unsere Gespräche
an Farbe gewinnen
und tiefer werden
nun, da wir alt und grau?

                 – Ilse Jacobson

Schnee taut
unterm Fliederstrauch
verweilend
atme ich einen Duft
der noch schläft

                 – Helga Stania

am besten so heiß
dass sich die Zunge verbrennt
und schwarz wie die Nacht
damit ich nicht vergesse
dass ich verheiratet bin

                 – Silvia Kempen

Was jetzt, Heimat...
Begraben unter fernen
Ruinen
Mutters Stimme
lebendig wie nie

                 – Klaus Stute & Ilse Jacobson

ein Herbstabend
mit den Fotos der Kinder
so bunt wie Laub
nach dem eigenen Geschmack
kleiden sie sich jetzt dunkel

                 – Silvia Kempen

ich liebe Morgennebel
und sein sanftes Grau
in meinem Garten
doch bleibt er bis zum Frühstück
schimpfe ich ihn Sonnendieb

                 – Erika Uhlmann

Autopanne
am Ende der Welt
roter Mohn
einsam am Straßenrand
ohne Empfang

                 – Silvia Kempen

Erinnerung
entspannender Spaziergang
zu Vergangenem
oder lange Wanderung
mit steinbeschwertem Rucksack

                 – Erika Uhlmann

Silvia Kempen
Episode

Knapp 15 Jahre alt. Ich fahre mit dem Fahrrad zur Schule und zurück. An einem Sommertag auf dem Weg nach Hause  fühle ich mich verfolgt. Ein Blick nach hinten – der schon wieder. Es war nicht das erste Mal. Ein Junge aus der Parallelklasse.
 
Jetzt aber in die Pedalen treten. Der Kanal auf der linken, die Häuser auf der rechten Seite rasen vorbei. Schneller und schneller. Rasant in die Rechtskurve, ein Stückchen geradeaus und dann links ab. Dann wieder schneller werdend ein gerades Stück. Hoffentlich ist er langsamer. Noch ist er nicht zu sehen. Schnell in die Einfahrt, das Fahrrad hinters Haus gestellt und hinein.
 
Atemlos. Hinter der Tür fühle ich mich in Sicherheit. Mutter schüttelt den Kopf. Vom Küchenfenster aus sehe ich ihn. Er schaut nach rechts und links und – fährt vorbei.
 
     der Junge damals
     so munkelte man im Dorf
     schon früh verstorben
     durch einen goldenen Schuss
     auf seinem Grab ein Engel

Tony Böhle
Don Quichote

Ralf Bröker
Auf der Suche


    im übervollen Planer
    kein einziger Geburtstag
    eines Freundes –
    so starre ich sie an,
    die Leere meines Lebens

    den Weg nach Haus
    geh‘ ich ganz wie jeden Tag,
    doch scheint er mir
    an diesem Abend
    nicht der meine zu sein

    mit wehendem Haar,
    die High Heels in der Hand,
    stürmt eine Frau vorbei –
    glücklich, die etwas haben,
    dem nachzujagen lohnt

    die ganze Welt
    verändern zu können, doch nicht
    das eigene Leben,
    dies ist das Dilemma
    der Mittdreißiger

    die Einförmigkeit
    grüner Äpfel im
    Supermarktregal –
    einen greif ich mir heraus
    und nenne ihn Tony zum Spaß

    Cervantes‘ Don Quijote
    auf dem Stapel
    Mängelexemplare –
    ich kaufe es
    aus purer Solidarität

    Schachtelhalme,
    Quastenflosser,
    Pfeilschwanzkrebse –
    nicht als Mensch, doch als Mann
    teile ich ihr Schicksal

    wie bedauernswert
    muss wohl ein Vater sein,
    der seinen Sohn aufzieht
    und sieht, dass er ein Mann wird,
    so ganz anders als er selbst?

    ein guter Name,
    heißt es, sei das wärmste Hemd –
    liebgewonnen
    trage ich das meine
    mit all den Flecken, Löchern

    Schluck für Schluck
    steigt mir das Bier zu Kopf…
    das Erwachsenwerden
    scheint mir auf einmal
    ganz unlogisch zu sein

    gefragt an welchem Punkt
    in meinem Leben ich nun sei,
    erzähle ich
    von Schrödingers Katze
    und der verschlossenen Box

    halbvoll steht der Mond
    am Himmel dieser ersten
    Sommernacht –
    was immer da noch kommen mag,
    es liegt im Dunklen


    anders als ich
    warst du bis zum Schluss stets
    auf der Suche
    hast immer wieder neu angefangen
    bist gescheitert und aufgestanden
 
    zu Hause, nicht im Job
    warst du die Nummer eins
    und schwarz war weiß
    für mich, weil du das so wolltest
    egal, was ich auch dachte
 
    seit zwei Jahrzehnten
    bist du nicht mehr da und ich
    denke immer noch
    an dich und du lebst ständig
    was hättest du jetzt gesagt
 
    das Gefühl, es besser
    zu machen als du, befriedigt
    mich nicht, heute, da
    ich fast so alt bin wie du
    aber anders als du bin ich
 
    nicht stets auf der Suche

Beate Conrad & Horst Ludwig
[ohne Titel]

Beate Conrad & Horst Ludwig
[ohne Titel]


     Erinnerungen
     die kleinen Sterne wie sie
     ins Dunkle leuchten
     während der langen Reise
     eine Zeitlang in der Zeit

     Die kleinen Sterne
     um den Kometen herum
     mit dem Gloria,
     sie freuten mich besonders.
     Wie sie alle glitzerten!

     Ins Dunkle leuchtet
     WE WANTED TO BE THE SKY
     in schrillen Tönen
     Lichter in den Hof gestellt
     hinterm romanischen Dom

     Während der Reise
     ein Aufenthalt bei Zöllnern,
     die wollen alles
     über die Bücher wissen,
     die ich da mit mir führe.

     Wie Zeit in der Zeit
     mir mehrfach durch den Sinn zieht,
     wie ich da schwimme,
     mir's Altern erleichtere,
     auch dann in der Sauna noch.

     (Beate Conrad: 1 & 3; Horst Ludwig: 2, 4, 5)



     Ununterbrochen
     auf der Rheinbrücke bei Nacht
     Kraftwagenverkehr.
     Im müden Wasser manchmal
     flattrig auch graues Mondlicht.

     Auf der Rheinbrücke
     ein Schrei stromlinienförmig
     ins Orangerot
     schon gebrochen die Grenze
     zwischen Traum und Wirklichkeit.

     Kraftwagenverkehr
     am Danksagefestmittwoch
     abendgrau und dicht
     zu Warnungen vor Glatteis
     zu schon acht Toten im Staat

     Im müden Wasser
     ein Gesicht, das sich nicht ent-
     scheiden wollte, 
 weh,
     zum rauhglitzernden Asphalt
     stößt erbarmungslos die Nacht.

     Flattrig das Mondlicht
     leckt am Flußufer entlang
     ein trunkenes Lied
     wie verlockend die Götter,
     verlockend gar für Weise.

     (Horst Ludwig: 1 & 3; Beate Conrad: 2, 4, 5)

Wettbewerbe, Termine und Veranstaltungen

2. Mai 2018 - Sanford Goldstein Tanka Contest
Für den Sanford Goldstein International Tanka Contest der Tanka Society of America können noch bis zum 31. Mai 2018 Beiträge eingereicht werden. Die Teilnahme steht sowohl Mitgliedern als auch Nichtmitgliedern offen. Tanka in englischer Sprache können in beliebiger Zahl eingereicht werden. Eine Teilnahmegebühr von $1,00 wird für jeden Beitrag erhoben. Alle weiteren Details finden sich auf der Homepage der TSA:

25. April 2018 - Annual Tanka Contest
Der jährliche Tanka-Wettbewerb auf Mandy's Pages wird auch diesmal wieder im Juni stattfinden. Der Gewinner wird von einer dreiköpfigen Jury gekürt und erhält einen Geldpreis. Die weiteren Top-Platzierten erhalten ein Ehrenzertifikat. Weitere Details zur Teilnahme finden sich unter dem nachfolgenden Link:

nächste Ausgabe

Die nächste Ausgabe von Einunddreißig erscheint am 15. August 2018. Der Einsendeschluss ist der 30. Juni 2018. Für die Einsendung von Beiträgen bitte ich, die Teilnahmebedingungen zu beachten.

(C) 2021
Alle Rechte bei Tony Böhle und den Autoren.
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