Ausgabe Mai 2020 - Einunddreißig

Einunddreißig
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Ausgabe Nr. 29 Mai 2020

Tony Böhle

Editorial

2020 ist ein großes Jubiläumsjahr der Musik. Ganz oben auf der Liste der Feierlichkeiten steht Beethovens 250. Geburtstag. Das gleiche Jubiläum begeht, wenn auch weitaus weniger bekannt, Mozarts zweite Italienreise, die bis 1772 dauerte. Zu den Kabinettstückchen, die Cavaliere Wolfgang Amadeo – so nach seiner Ernennung zum Ritter vom Goldenen Sporn durch den Papst – auf dieser Reise noch vollbrachte, zählte u.a. die Niederschrift des neunstimmigen Miserere von Gregorio Allegri – einem streng gehüteten vatikanischen Schatz – aus dem Gedächtnis nach dem einmaligem Hören.
Auch dank solcher Wunderleistungen dürften sich Vater und Sohn Mozart einen lukrativen Opernauftrag für die Eröffnung der Saison 1770/71 am Mailänder Teatro Regio Ducale (dem Vorgänger des Teatro alla Scala) gesichert haben. Die Geschichte von "Mitridate, re di Ponto" – so der Titel des Librettos – ist schnell erklärt: Mitridates, der König von Pontus lässt die Nachricht von seinem Tod verbreiten, um das diplomatische Geschick seiner beiden Söhne Sifare und Farnace auf die Probe zu stellen. Beide haben allerdings ein Auge auf Aspasia, die Verlobte ihres tot gewähnten Vaters, geworfen und so nehmen die politischen und amourösen Verwicklungen ihren Lauf.
Während der Ausarbeitung der Arien mit den Sängern machte schnell das Gerücht die Runde, die Oper müsse schrecklich sein. Wie könnte auch ein 14-Jähriger – noch dazu ein Deutscher (!) – in seiner Musik alle Schattierungen der menschlichen Gefühlsskala bis hin zu den verschiedenen Schattierungen der Liebe einfangen? Eigene Erlebnisse dürften wohl kaum zur Inspiration gedient haben. Was aber durchaus zum Gelingen beigetragen haben dürfte, ist der Umstand, dass auch solche Arien nicht einfach so geschrieben werden können, sondern sich an gewissen Regeln zu orientieren haben. Dieses Gerüst zusammen mit einer Note von Individualität, lässt die Komposition zu einer lösbaren Aufgabe werden. Am Ende wurde die Oper mit insgesamt 23 Aufführungen ein, trotz aller Unkenrufe, ein großer Erfolg.
Am Ende dieses kleinen Ausflugs in die Vergangenheit bleibt neben der Musik eine interessante Frage: Kann man über etwas schreiben, das sich dem eigenen Erfahrungshorizont und der eigenen Gefühlswelt entzieht, und dabei glaubwürdig bleiben? Beispiele dafür gibt es auch in der Geschichte des Tanka zur Genüge. Im alten Japan konnte das Reisen durchaus beschwerlich sein und so verwundert es nicht, dass auch Waka über Landschaftsansichten gedichtet wurden, die der Verfasser vielleicht nur von Tuschemalereien kannte. Und auch Tawara Machi hat ihre Liebeleien in "Sarada Kinenbi", das zu einem Bestseller wurde, wohl erfunden – das allerdings überaus realistisch. So manches Tanka lässt durchblicken, dass es wohl kein ganz reales Ereignis war, über das der Autor oder die Autorin da geschrieben hat. Kobaltblau nicht mehr als Lieblingsfarbe haben, weil man sie im Atommüll gesehen hat, ist ein faszinierender Gedanke. Aber wer bekommt schon Atommüll zu sehen – nicht etwa die gelben Fässer, die gelegentlich über den Bildschirm flimmern, sondern das, was darin ist?
Am Ende muss es wohl nicht immer der nackte Realismus à la Takuboku sein, den ein ansprechendes Tanka braucht, aber beim Nachwürzen oder Neugestalten der Realität sollte man sich nicht so einfach auf die Schliche kommen lassen. Könnten Sie herausfinden, ob ein Tanka auf erlebten Tatsachen beruht, wenn Sie es lesen? Das einmal zu versuchen, lade ich Sie herzlich zur Mai-Ausgabe von Einunddreißig ein.

Valeria Barouch

Das Tanka international Teil XVII - Rika Inami

Rika Inami lebt in Akita, Japan. Sie hat einen Hochschulabschluss des First Department of Literature der Waseda University. Sie ist Mitglied von "Tanka Association Mirai", "Muro Saisei Learned Society" und "Akita International Haiku Network".
Sie freut sich über die Vorstellung in Einunddreißig aus zwei Gründen; erstens weil es ein deutsches Tanka-Magazin ist und zweitens, weil Deutschland die Heimat des Dichters Johann Christian Friedrich Hölderin ist, der in seinen Werken die Natur pries.
In ihren Studientagen interessierte sie sich nämlich für Hölderlin und ihre Abschlussarbeit, welche ihre Studien in östlicher und westlicher Philosophie, Ästhetik und künstlerischer Sensibilität resümierte,  befasste sich mit diesem Dichter.
Ihre Tanka sind seit Beginn hauptsächlich von der Natur inspiriert und viele von Hölderlin beeinflusst. Sie empfindet Dichtung als Geist der Sprache.
Rika verfasst ihre Tanka zuerst in klassischem Japanisch und überträgt sie danach sorgfältig ins Englische. Ihre Texte bleiben auf diese Weise ihrer Muttersprache und dem Tanka-Stil treu.
Sie ist sich dem stetigen Wandel der Welt bewusst und denkt, dass die Menschen die Natur nicht ignorieren sollten, weil sie ein Teil davon sind. Indem wir auf die Natur hören und von ihr lernen werden wir, ihrer Meinung nach, die Probleme dieser Welt lösen können.
Rika Inami ist auf folgenden Internetseiten vertreten:
Unter dem Titel "Tanka Harako I, II, III" hat sie drei zweisprachige Anthologien (Japanisch-Englisch) als Kindle E-Book veröffentlicht, welche auf Amazon erhältlich sind.

through
space and time
primordial
particles sparkling
...our wishes come true
              EBAN Prize on EU-Japan NewSpace 2060
              International Illustrated Haiku Competition 2019

durch
Raum und Zeit
funkeln
Urteilchen
...unsere Wünsche werden wahr
              EBAN Prize on EU-Japan NewSpace 2060
              International Illustrated Haiku Competition 2019

as if
all returned to the void
snow falls silently...
heaven and earth joining mutually
and becoming all in white
              The Bamboo Hut Spring 2019

als ob
alles ins Nichts zurückkehrte
still fällt der Schnee...
Himmel und Erde verbunden
in gemeinsamen Weiß
              The Bamboo Frühjahr 2019

the valley
muffled with snow
in February
is my source...
the best space for me
              Akita International Haiku,
              Tanka by Rika Inami 30

das Tal
eingemummt mit Schnee
im Februar
hier ist meine Quelle...
hier nährt sich mein Geist
              Akita International Haiku,
              Tanka von Rika Inami 30

I want to see spring...
my heart leaps
and strains my ears
Listen... the river runs
with clear sounds
              CQ International Magazine Focus on Japan

Den Lenz will ich sehen...
mein Herz springt
meine Ohren sind gespitzt
Höre... wie hell
der Fluss sprudelt
              CQ International Magazine Focus on Japan

raindrops...
sadness of one night
slipping  
off the petals
of cosmos flower...
              CQ International Magazine Horror Quarter
              <Five pieces to Mt. Chokai in Akita>

Regentropfen...
Traurigkeit einer Nacht
gleitet
von den Blütenblättern
eines Schmuckkörbchens
              CQ International Magazine Horror Quarter
              <Five pieces to Mt. Chokai in Akita>

a flash
a time traveler alights
on the bench
playing with photons
in the sunny spot
              Solution Creators Prize on EU-Japan
              NewSpace 2060 International
              Illustrated Haiku Competition 2019

ein Aufblitzen
ein Zeitreisender landet
auf der Bank
spielt mit Lichtteilchen
auf dem sonnigen Fleck
              Solution Creators Prize on EU-Japan
              NewSpace 2060 International
              Illustrated Haiku Competition 2019

on a mountain
around a vacant cottage
all the ash leaves
fiery red
like madness
              Moonbathing Issue 17

auf einem Berg
um die unbewohnte Hütte
all die Eschenblätter
feuerrot
wie Chaos
              Moonbathing Ausgabe 17

great ether
flows there
spiritual mountain
fiery with rusting colors
...before closed by snow
              Akita International Haiku Nov. 2017,
              Tanka by Rika Inami 4

wunderbar
fließt der Äther dort
der spirituelle Berg
glutrot mit Rostfarben
...bis der Schnee ihn einschließt
              Akita International Haiku Nov. 2017,
              Tanka von Rika Inami 4

around
the fifth station of Mt. Chokai
cold wind
sounds lonely today
...lucid rusting colors
              Akita International Haiku Nov.2017,
              Tanka by Rika Inami 4

auf der Höhe
der fünften Station des Mt. Chokai
kalter Wind
hört sich einsam an heute
...leuchtende Rostfarben
              Akita International Haiku Nov.2017,
              Tanka von Rika Inami 4

along the mountain
fiercely flowing
waterfalls
awake and release
my demon
              Le lumachine no. 31 (Tanka) 2018 Oct.

am Berghang entlang
ungestüm fließende
Wasserfälle
wecken und befreien
meinen Dämon
              Le lumachine no. 31 (Tanka) 2018 Oct.

 
Übersetzt und veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Valeria Barouch & Tony Böhle

Tanka der Redaktionsmitglieder

Wir vergleichen
die gezählten Schafe
dieser Nacht
ich schmälere meine Herde
um die Seine zu bedauern
               – Valeria Barouch

ungeliebt
fristet es sein Dasein
nun im Schrank –
dieses Hawaii-Hemd war
wohl nur ein Urlaubsflirt
              – Tony Böhle

Auf der Durchfahrt
halte ich wieder Ausschau
nach den Hirschen
wie konnt' ich all die Jahre
den hohen Zaun übersehen
               – Valeria Barouch

passend
zum alkoholfreien Bier
will ich verzichten
auf die Liebe anderer
und nur ganz ich selbst sein
              – Tony Böhle

Valeria Barouch & Tony Böhle

Tanka-Auswahl Mai 2020

Aus den Einsendungen, die zwischen dem 1. Januar und dem 31. März 2020 eingereicht wurden, hat die Jury, bestehend aus Valeria Barouch und Tony Böhle, für die Mai-Ausgabe von Einunddreißig eine Auswahl von 23 Tanka getroffen. Jeder Teilnehmer konnte bis zu zehn Tanka einreichen. Die ausgewählten Texte stehen nachfolgend alphabetisch nach den Autorennamen aufgelistet. Die Jurymitglieder haben jeweils ein Tanka, das sie besonders angesprochen hat, hervorgehoben und kommentiert.

Valeria Barouch

Ein Tanka, das mich besonders anspricht

die faulen Blätter
ich fisch sie aus dem Teich
nur ganz am Grund
lass ich sie liegen... mir würd’s
– wär ich ein Frosch – gefallen!
               – Gabriele Hartmann
 
Man kann an Laub, selbst im Zustand nahender Fäulnis, Gefallen finden ohne ein Frosch zu sein, wenn die Umstände ein besonderes Licht darauf werfen. Dieses Tanka hat bei mir sogleich Bilder von einem Besuch der Tropfsteinhöhlen von Vallorbe im Jura vor vielen Jahren wachgerufen. Nach dem Durchwandern der majestätischen Grotten entlang des unterirdischen Flusslaufes der Orbe, schien es unmöglich aus der zauberhaften Welt direkt in den nüchternen Alltag zurückzukehren. Das Erkunden des Waldes war deshalb das Naheliegendste. Es war früh im April, überall lag noch Laub und der Grund eines schmalen Baches war damit teppichartig ausgelegt. Das Licht, das durch noch fast kahle Baumkronen fiel, zeichnete silberne Muster auf das sanft  fließende Wasser. Darauf spiegelte sich auch ein Ast auf dem zartes Grün ein paar Knospen sprengte. Die Blattformen am Grund waren noch klar erkennbar, doch die Farbe kündete die nächste Phase an die Verwesung. Der lyrische Moment lag wohl mehr in diesem Nebeneinander von Geburt und Zerfall als im Charm des dunkelbraunen Bachgrundes. Ein Frosch hätte sicherlich an dem Blätterteppich auch Gefallen gefunden, allerdings ganz ohne ästhetische Erwägungen. Dessen Tauglichkeit als Schutzplatz oder Überwinterungsort wäre ihm wichtig gewesen.
 
Dieses Tanka weckte nicht nur poetische Erinnerungen, es ließ mich auch schmunzeln, denn es erlaubt eine Interpretation, die über das  Naturbild hinausgeht.
 
Besitzer eines Gartenteiches wissen natürlich, dass dieses Glück auch seine Kehrseiten hat. Man muss hin und wieder etwas mehr für dieses Stückchen Natur tun als nur Blätter von der Oberfläche entfernen. Je nach Jahreszeit müssen Pflanzen zurückgeschnitten, Algen entfernt oder sogar Schlamm herausgeputzt werden. Letzteres ist keine Aufgabe um die man sich reißt.
 
Vielleicht ist dies nun gerade so ein Jahr an dem etwas mehr Einsatz auf der Agenda des Teiches steht, offenbar aber nicht auf derjenigen der Autorin. Ihre Reinigung endet mit dem Bekenntnis "nur ganz am Grund lass ich sie liegen... ". Zeigen die Auslassungspunkte an, dass sie nach einer Rechtfertigung sucht? Ein geschicktes Alibi ist denn auch das Resultat der Überlegung: "mir würd’s – wär ich ein Frosch – gefallen! ". Ob  ein Frosch ihr Recht geben würde, lässt sich nicht eruieren. Mir jedenfalls gefällt die Wendung, welche die Geschichte nimmt.

Tony Böhle

Ein Tanka, das mich besonders anspricht

beim Scrollen durch die
neuesten Kommentare
wieder und wieder
der vorwurfsvolle Blick auf
das Smartphone des Anderen
               – Eva Limbach
 
Welche Bedeutung für uns die digitale Kommunikation bekommen hat, sollten spätestens seit den letzten Wochen für jeden offensichtlich sein. Durch die Ausgangssperren – euphemistischer als Kontaktbeschränkungen bezeichnet – mussten die meisten unter uns mit einigem Erfindungsreichtum versuchen die sogenannte "neue Normalität" zu meistern. Statt Besprechungsrunden im Büro gibt es nun Skype-Konferenzen, statt Freunde zu treffen müssen es eben Telefon und WhatsApp tun und anstelle des Lehrers unterrichten Mama, Papa und YouTube. Auch die Umsätze der Online-Händler jagen Rekorde. Dabei trifft nun nur zwangsweise alle das, was für viele schon längst Alltag geworden war. Eva Limbachs Tanka zeigt uns, wie der Sog dieser digitalen Welt uns einfangen kann.
 
Wo genau die dargestellte Szene verortet ist, bleibt unsicher. Auch wer der andere ist, auf dessen Smartphone der Blick gleitet, wird nicht genannt. Ist es ein Fremder, neben dem man zufällig in einer U-Bahn sitzt, ein Freund, den man in einem Café trifft, oder ein Kollege im Büro? Die eher distanzierte Benennung als "Anderer" lässt wohl den Schluss zu, dass es sich um keinen allzu nahestehenden Menschen handelt.
 
Die Formulierung des Tanka ist dabei offen für zwei verschiedene Lesarten. Ob es der andere ist, der sich durch seine "neuesten [erhaltenen] Kommentare" arbeitet und sich deshalb einen vorwurfsvolle Blick einhandelt, oder dafür Neid auf sich zieht, mehr Kommentare erhalten zu haben als das lyrische Ich, kann man nicht mit Sicherheit sagen. Jedenfalls scheint es interessanter zu sein, sich mit anderen Personen virtuell über das Smartphone auseinander zu setzen, als in der realen Welt. Ein seltsamer Gedanke! Nur der "vorwurfsvolle Blick" gleitet "auf das Smartphone des Anderen".
 
Auf die eine oder andere Weise scheint der ominöse andere eine breite Aufmerksamkeit zu genießen. Immerhin muss er schon durch die neuesten Kommentare "scrollen" – und tut das wohl auch gern. Auch um was für einen Beitrag es sich da handelt, der da so heftig kommentiert wird, bleibt ungenannt. Ob es ein Post in einem sozialen Netzwerk ist, ein Foto oder auch ein neuer Text in einer Dichterwerkstatt, sollte gar nicht so wichtig sein, denn das Ergebnis ist wohl das Gleiche! Am Ende spricht das Tanka wohl eine essentielle Frage der letzten und auch noch nächsten Jahre an: Wieviel Bedeutung wollen wir der neuen digitalen Welt und den digitalen Medien beimessen? Werden Sie zu einer Parallelwelt oder eine Erweiterung unserer analogen Welt?

Valeria Barouch & Tony Böhle (Auswahl)

Die Tanka-Auswahl

Das Heft zerfleddert,
die Seiten abgegriffen-
Tränen der Trauer
benetzen das Tagebuch,
das dem Freund ein Denkmal setzt.

                – Ingrid Baumgart-Fütterer

Quarantäne...
und im Duden steht
es gäbe
keine Steigerung
von "allein"

                – Frank Dietrich

Die Krankheit
Der fremde Blick
des Freundes,
nicht in die Augen

Schwindelgefühle

                – Reiner Bonack

aufgetaucht
aus der Quarantäne
wie schlank
er doch geworden ist...
mein Frosch vom vergangnen Jahr

                – Gabriele Hartmann

Es ist so unnachahmlich
wie du Kuchen isst
und dabei krümelst

Lange erst, nachdem du gingst,
wische ich die Krümel weg

                – Reiner Bonack

die faulen Blätter
ich fisch sie aus dem Teich
nur ganz am Grund
lass ich sie liegen... mir würd’s
– wär ich ein Frosch – gefallen!
               – Gabriele Hartmann

Immer unterwegs
Ich bewunderte ihn lange,
bis er aufbrach
von unserer Freundschaft,
ichweißnichtwohin

                – Reiner Bonack

in aller Herrgottsfrühe
ein paar Worte
mit den Krähen wechseln
oder braucht's noch mehr um
nicht verloren zu gehen

                – Eva Limbach

heute Nacht ziehen
Venus und Mars über uns
wie klein dagegen
scheint, was uns ans Haus fesselt
macht sich die Menschen untertan

                – Ralf Bröker

beim Scrollen durch die
neuesten Kommentare
wieder und wieder
der vorwurfsvolle Blick auf
das Smartphone des Anderen

                – Eva Limbach

der Wein schon warm
die Kerzen halb abgebrannt
die CD durch
langsam wird ihm klar
sie kommt nicht mehr

                – Pitt Büerken

Es ist erotisch
sagte mein Mann zu einem
süßen Warabi-Mochi.
Seitdem fasse ich’s oft an
und kann‘s nicht mehr essen.

                – Masami Ono-Feller

Nachts an der Tanke
Glühbirnen schillern müde
in den Ölpfützen
Fledermausflügel schieben
sich über ein Mondgesicht

               – Beate Conrad

still jetzt Amselchen
lass uns gemeinsam schweigen
vom Weiß
der Akazienblüten
vom duftenden Springkraut

                – Jonathan Perry

Das Gesicht der Stadt
kaum mehr als eine Straße
im Durchgangsverkehr.
Menschen mit einer Zukunft
aber ganz ohne Gesicht

                – Beate Conrad

das Töchterchen im Arm
tanzt meine Frau dreht sich –
zur Mitte hin
wandert unbemerkt derweil
die Plattenspielernadel

                – Jonathan Perry

ohne Blätter
ohne Früchte
und ohne Vögel
ergibt sich die alte Birke
dem Wind

                – Frank Dietrich

Schlote im Abendrot.
Ich wende mich ab,
es passt nicht zusammen.
Und wieder hin,
es sieht schön aus...

                – Dyrk-Olaf Schreiber

die Nachbarin
die mich nur flüchtig grüßt
nie ein Wort mit mir wechselt
wie schön ihr Gesang
aus ihrer Wohnung klingt

                – Frank Dietrich

Weg zum Supermarkt
'ne gute halbe Stunde
dann nach Warenwahl
zurück mit schwerer Tasche
das ist richtig Altensport

                – Erika Uhlmann

vor der Klinik
für plastische Chirurgie
ein Strauch
zurechtgestutzt in die Form
eines Schwans

                – Frank Dietrich

Wohnungs-Auflösung
das ist die beste Lösung
meinen sie alle
auch mein Kopf sagt schließlich ja
mein Herz nur birgt die Tränen

                – Erika Uhlmann

die Trauerweide verrät
die unterirdische
Quelle
da ist etwas
was du mir verschweigst

                – Frank Dietrich

Martin Thomas
Das Tanka ist tot, es lebe das Tanka: Moderne Großstadtlyrik in japanischem Gewand -
eine Rezension zu: Playlist. Tanka von Tony Böhle mit Illustrationen von Valeria Barouch.

Playlist. Tanka von Tony Böhle mit Illustrationen von Valeria Barouch. Frankfurt a. M.: edition federleicht 2020. 84 Seiten, 18,00 €. ISBN-978-3-946112-56-3.
Dass sich neben dem Haiku auch das Tanka als Vertreter der klassischen japanischen Kurzlyrik in Deutschland zunehmender Beliebtheit erfreut, ist ein unumstößlicher Fakt. Genauso evident ist die Tatsache, dass es dringend Reformen bedarf, möchte es nicht ebenso wie sein jüngerer Bruder als lyrisches Experimentierfeld der Generation Ü50 enden, deren kreatives Potential sich allzu häufig in der Wiederholung ewig gleicher Themen und Motive erschöpft. Diesen Handlungsbedarf hat auch Tony Böhle, der Autor der vorliegenden Tanka-Sammlung, erkannt und liefert mit seinem Erstlingswerk Playlist ein beeindruckendes Zeugnis davon, wie die Transgression einer weit mehr als eintausend Jahre alten Gedichtform in den Kontext moderner Lebenswirklichkeit gelingen kann.
Insgesamt bietet der vorliegende Band seinen Leserinnen und Lesern 87 Gedichte, welche sich ungleich auf sieben thematisch zusammenhängende Abschnitte – "Nomaden", "Frisch gestrichen", "Ducken und Bedecken", "Montagsmorgen-Countdown", "Don Quichote", "Playlist" und "Falter ohne Fühler" – verteilen. Schon beim ersten Blättern fallen die überaus gelungenen Illustrationen von Valeria Barouch ins Auge, die dafür sorgen, dass im Falle der zu bewertenden Sammlung durchaus von einem Gesamtkunstwerk gesprochen werden kann, da jede der zehn Lichtmalereien, welche den progressiv-modernen Charakter des Bandes unterstreichen, einem ganz bestimmten Text gewidmet ist und diesen durch eine optische Bildsphäre ergänzt. Den eigentlichen Gedichten vorangestellt ist ein kurzes Vorwort des Autors, in dem dieser sein Verständnis der lyrischen Form des Tanka erläutert und plausibel begründet, warum es immer noch lohnenswert ist, sich dieser Art des lyrischen Ausdrucks zu bedienen. Abgerundet wird der Band schließlich durch ein ausgesprochen informatives Nachwort von Christian Skrey, das auf zwölf Seiten neben biografischen Details zum Autor auch fundierte Analysen einzelner Gedichte im Kontext der Entwicklungsgeschichte des Tanka enthält.
Auf der inhaltlichen Ebene finden sich insbesondere Motive, die dem Genre der Großstadtlyrik zugeordnet werden können. So wird der tägliche Weg zur Arbeit und die Tristesse der sich stets wiederholenden Tagesabläufe ("Nomaden", "Don Quichote") ebenso beschrieben wie die Anonymität des Individuums in der Großstadt und das Gefühl der Entfremdung ("Frisch gestrichen"). Und auch die Angst vor drohenden Gesellschaftskonflikten und Kriegen ("Decken und Bedecken") ist lyrisch verarbeitet. Den weitaus größten Teil der Sammlung nehmen, und hier findet sich eine Parallele zum klassischen Tanka bzw. Waka, Gedichte ein, welche Liebe und zwischenmenschliche Beziehungen thematisieren ("Don Quichote", "Playlist", "Falter ohne Fühler"). Die Stärke des Autors besteht dabei insbesondere in der schonungslosen Weise, in welcher er mit sich und seinen Gefühlen ins Gericht geht. Diese Form der Selbstentblößung funktioniert ausgesprochen gut, da der Autor seine Leserschaft in deren realem Lebensalltag, sei es beim Aufstehen am Morgen, dem Einkauf im Supermarkt oder dem Feierabend auf der Couch, abholt. So wird eine persönliche Beziehung aufgebaut, welche die Leserinnen und Leser förmlich in einer Art Sog vom einen zum nächsten Gedicht ziehen dürfte. Der einzige Kritikpunkt besteht in einer gewissen Monotonie der vorherrschenden Stimmung. So werden die größtenteils desillusionistisch-melancholischen Werke leider viel zu selten durch humoristische und eindeutig lebensbejahende Einlagen aufgelockert, was aber auch der subjektiven Empfindung des Rezensenten geschuldet sein mag.
Betrachtet man abschließend die stilistische Ebene, so merkt man schnell, dass hier jemand sein Handwerk versteht. Ohne sich allzu verbissen an die eigenen Vorgaben zu halten, etabliert der Autor eine fünfzeilige Alternation von kurzen und langen Versen (kurz-lang-kurz-lang-lang), welche in ihrem sprachlich-semantischen Zusammenspiel sehr nahe an die japanische Ursprungsform heranreicht. Darüber hinaus sorgen phonologische Figuren wie Alliterationen und Onomatopoetika, syntaktische Figuren wie Parallelismen und Enjambements sowie zahlreiche Symbole, Metaphern und Vergleiche für eine gestalterische Variabilität, welche durch den wiederholten Einsatz von wörtlicher Rede und typologischen Besonderheiten wie Auslassungen, Gedankenstrichen und Emojis gelungen komplettiert wird. Es bleibt zu hoffen, dass das Erstlingswerk des Autors, das aufgrund seiner thematischen und stilistischen Eigenheiten als deutsches Äquivalent des bekannten Sarada kinenbi (サラダ記念日 "Der Salat-Gedenktag", 1987) von Tawara Machi (*1962) bezeichnet werden kann, von einem möglichst breiten Publikum rezipiert wird und hierzulande ein ähnliches Echo auslöst wie sein japanisches Pendant seinerzeit in Japan. Die ersten Seiten eines neuen Kapitels der Geschichte des deutschsprachigen Tanka sind auf jeden Fall geschrieben.

Samstagabende
zu zweit vorm Fernseher –
eine Zeit als ich
begann mir Unterwäsche
in 3er-Packs zu kaufen

die Zeitung auf dem Schoß,
ein Pappbecher voll Kaffee:
Insignien
all jener, die auszogen,
ihr Glück zu suchen

nach und nach
leuchten in den Fenstern
Lichter auf –
jedes ein kleiner Stern
unerreichbar für die anderen

"Nein, ich möchte
wirklich keine Kinder..."
einen nach
dem anderen sortierst du
die Schrimps aus dem Salat

gestrandet
in einer Stadt, wo keiner
mich kennt
lieg‘ ich nachmittags im Park
transparent wie eine Qualle

ein :‘(
in deiner WhatsApp sagt,
dass du mich vermisst...
warum zeigst du dich
immer nur in Kürzeln?

einzigartig
wie ein Fingerabdruck –
die Playlist
im iPhone ein Negativ
deiner Persönlichkeit

Cervantes Don Quijote
auf dem Stapel
Mängelexemplare –
ich kaufe es
aus purer Solidarität

Beate Conrad
Iden des März

  Schwarz, dann rot, Zahlen
  zur Börsenachterbahnfahrt,
  zu offnen Mündern
  Zelleindringlinge, ein Wind
  weht aus unserer Zukunft.

Für eine ältere Dame hatte ich treuhänderisch ein Geschäft abzuwickeln. Telefonisch waren alle wesentlichen Vereinbarungen dazu getroffen und wichtigste Papiere hinterlegt. Allerdings wurde mir gesagt, dass Edelmetalle dieser Tage kaum noch verfügbar und sehr teuer seien.
"Ich las davon sogar, nur wo?" berichtete die noch ältere Schwester der alten Dame während unseres Gesprächs beim Kaffee. "Aber wer soll Worten und wem noch trauen? Wissen sie das hatten wir schon mal alles, aber das war wohl vor ihrer Zeit."

Was tun? Was lassen?

Im Treppenhaus drückt sich eine Frau ganz dicht an der Wand an mir vorbei, ihr Gesicht abgewandt.

  Bitterer Frühling –
  eine Spinne versteckt sich
  in der Schublade,
  im Regal kein Klopapier
  und an der Kasse staut sich's.

Gabriele Hartmann
Königskinder

Mittwoch, 25. März 2020

Auf Straßen und Plätzen kaum Verkehr, ungewohnte Stille. Wären da nicht warnende Stimmen, wollt’ man sich beinah’ daran gewöhnen.

  Nudeln kaufen sie
  Mehl und Klopapier – klappern
  die Läden ab

Über allem der Himmel: strahlend blau und wolkenlos, keine Kondensstreifen. Daran könnt’ man sich gewöhnen.

  und ich? putz’ die Rollläden
  als hätt’ das auch einen Sinn

Wir werden uns daran gewöhnen. An Warnung & Vorsicht, an Maske & Abstand.

  Königskinder
  in der Mitte des Stroms
  treibt ihr Blick

Lt. heutigen Nachrichten bleiben auch Hochwohlgeborene nicht verschont.

  und wir? küssen und umarmen uns
  als wär’s zum letzten Mal

  Wir?
  Wir doch nicht.
  Doch nicht wir!


Ralf Bröker
Tanka-Sequenz


  Am Abend des 27. März 2020

  ich solle Abstand
  halten zischt er und schiebt
  seinen Einkaufswagen
  vors Regal mit Klopapier
  greift die letzten fünf Pakete

  heute betet sie
  den Rosenkranz nicht
  in der Kirche
  sondern mit ihrem Mann
  bevor der Pflegedienst kommt

  diesen Freitag sitzt
  der Wirt vor seinem Rechner
  füllt Anträge die
  sich in Lichtgeschwindigkeit
  in die Schlange stellen

  schlaflos irren Menschen
  sternenmengengleich
  durch diese Zeit
  schneiden sich kein Ohr ab
  finden kein Café, keine Bar

Wettbewerbe, Termine und Veranstaltungen

Playlist. Tanka von Tony Böhle mit Illustrationen von Valeria Barouch
Soeben ist der erste Tanka-Band von Tony Böhle erschienen. Auf 84 Seiten finden sich 87 Tanka mit Lightpaintings von Valeria Barouch, einer Einleitung zum Thema und einem Nachwort von Christian Skrey. Eine ausführliche Rezension von Martin Thomas finden Sie hier. Erhältlich beim Verlag oder direkt bei Tony Böhle (einsendung@einunddreissig.net). ISBN-13: 978-3-946112-56-3.

Fleeting Words Tanka-Wettbewerb 2020
Die United Haiku and Tanka Society (UHTS) bittet um Einsendungen für ihren jährlich stattfindenden Fleeting Words Tanka Contest. Bis zu 10 Tanka in englischer Sprache können für den Wettbewerb von 1.-31. Mai 2020 über die Webseite der UHTS eingereicht werden. Die Teilnahme ist kostenlos und eine Mitgliedschaft in der UHTS ist nicht erforderlich. Alle weiteren Informationen und die Teilnahmebedingungen sind auf der UHTS zu finden: https://unitedhaikuandtankasociety.com/contest-submission-guidelines

nächste Ausgabe

Die nächste Ausgabe von Einunddreißig erscheint am 15. August 2020. Der Einsendeschluss ist der 30. Juni 2020. Für die Einsendung von Beiträgen bitte ich, die Teilnahmebedingungen zu beachten.

(C) 2021
Alle Rechte bei Tony Böhle und den Autoren.
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